Ist das Kafka?: 99 Fundstücke (German Edition)
die Vermutung nahe, dass Kafka gemeinsam mit einem Begleiter zugegen war.
Auf dem Foto sind in der Mitte unten – in direkter Verlängerung des Laternenmasts – zwei auffällige Männer zu sehen, die in der ersten Reihe der Menge stehen und die durchziehenden Musikanten aus nächster Nähe beobachten. Im Gegensatz zu den bäuerlichen Demonstranten, die fast ausnahmslos dunkel gekleidet sind, tragen sie helle Sommeranzüge, wie auch Kafka einen besaß. Der linke der beiden zeigt Kafkas markante, sehr schlanke und über durchschnittlich große Statur und – soweit erkennbar – auch die für ihn charakteristischen jugendlichen Züge. Auch wenn die letzte Gewissheit fehlt, lässt sich mit einiger Wahrscheinlichkeit sagen: Er ist es.
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Ohne Pass über die Grenze
Jetzt die Geschichte der Reise und dann sage noch dass Du kein Engel bist: Seit jeher wusste ich, dass mein österreichisches Visum eigentlich (und uneigentlich) schon vor 2 Monaten abgelaufen war, aber in Meran hatte man mir gesagt, dass es für die Durchfahrt überhaupt nicht nötig sei und tatsächlich machte man mir jetzt bei der Einreise in Österreich keine Aussetzung. Deshalb vergass ich auch in Wien diesen Fehler vollständig. In Gmünd aber bei der Passstelle fand der Beamte – ein junger Mann, hart – diesen Fehler gleich heraus. Der Pass wurde beiseite gelegt, alle durften weiter zur Zollrevision gehn, ich nicht, das war schon schlimm genug […] aber da fingst schon Du zu arbeiten an. Ein Grenzpolizist kommt – freundlich, offen, österreichisch, teilnehmend, herzlich – und führt mich über Treppen und Gänge ins Grenzinspektorat. Dort steht schon mit einem ähnlichen Passfehler eine rumänische Judenfrau, merkwürdigerweise auch Deine freundliche Abgesandte, Du Judenengel. Aber die Gegenkräfte sind noch viel stärker. Der grosse Inspektor und sein kleiner Adjunkt beide gelb mager verbissen, wenigstens jetzt, übernehmen den Pass. Der Inspektor ist gleich fertig: »Nach Wien zurückfahren und den Sichtvermerk bei der Polizeidirektion holen!« Ich kann nichts anderes sagen als mehrere Male: »Das ist für mich schrecklich.« Der Inspektor antwortet ebenfalls mehrere Male ironisch und böse: »Das kommt Ihnen nur so vor.« »Kann man nicht telegraphisch den Vermerk bekommen?« »Nein« »Wenn man alle Kosten trägt?« »Nein« »Gibt es hier keine höhere Instanz?« »Nein« Die Frau, die mein Leid sieht und grossartig ruhig ist, bittet den Inspektor, dass er wenigstens mich durchlassen soll. Zu schwache Mittel, Milena! So bringst Du mich nicht durch. Ich muss den langen Weg zur Passstelle wieder zurückgehn und mein Gepäck holen, mit der heutigen Abreise ist es also endgültig vorbei. Und nun sitzen wir in dem Grenzinspektoratszimmer beisammen, auch der Polizist weiss wenig Trost, nur dass die Gültigkeit der Fahrkarten sich verlängern lässt udgl., der Inspektor hat sein letztes Wort gesagt und sich in sein Privatbureau zurückgezogen, nur der kleine Adjunkt ist noch da. Ich rechne: der nächste Zug nach Wien fährt um 10 Uhr abends ab, kommt um ½3 nachts in Wien an. Von dem Riva-Ungeziefer bin ich noch zerbissen, wie wird mein Zimmer beim Franz Josefs Bahnhof aussehn? Aber ich bekomme ja überhaupt keines, nun dann fahre ich (ja, um ½3) in die Lerchenfelder Strasse und bitte um Unterkunft (ja, um 5 Uhr früh). Aber wie das auch sein wird, jedenfalls muss ich mir also Montag vormittag den Sichtvermerk holen (bekomme ich ihn aber gleich und nicht erst Dienstag?) und dann zu Dir gehn, Dich überraschen in der Tür, die Du öffnest. Lieber Himmel. Da macht das Denken eine Pause, dann aber geht es weiter: Aber in welchem Zustande werde ich sein nach der Nacht und der Fahrt und abend werde ich doch gleich wieder fortfahren müssen mit dem 16stündigen Zug, wie werde ich in Prag ankommen und was wird der Direktor sagen, den ich also jetzt wieder telegraphisch um Urlaubsverlängerung bitten muss? Das alles willst Du gewiss nicht, aber was willst Du denn dann eigentlich? Es geht doch nicht anders. Die einzige kleine Erleichterung wäre, fällt mir ein, in Gmünd zu übernachten und erst früh nach Wien zu fahren und ich frage schon ganz müde den stillen Adjunkten nach einem Morgenzug, der nach Wien fährt. Um ½6 und kommt um 11 Uhr vormittag an. Gut, mit dem werde ich also fahren und die Rumänin auch. Aber hier ergibt sich plötzlich eine Wendung im Gespräch, ich weiss nicht auf welche Weise, es blitzt jedenfalls auf, dass
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