Ist Gott ein Mathematiker
kann auch die Kontinuumhypothese aus derselben Kollektion von Axiomen weder bewiesen noch zurückgewiesen werden, selbst dann nicht, wenn man das Auswahlaxiom hinzunimmt.
Diese Entwicklung hatte dramatische philosophische Konsequenzen. Wie im Falle der nichteuklidischen Geometrien im 19. Jahrhundert gab es danach nicht mehr nur eine einzige abgeschlossene Mengenlehre, sondern deren mindestens vier! Man konnte unterschiedliche Annahmen über unendliche Mengen zugrunde legen und hatte am Ende einander ausschließende Mengenlehren. Man konnte zum Beispiel annehmen, dass sowohl das Auswahlaxiom als auch die Kontinuumhypothese zutrafen, und erhielt die eine Version, oder man nahm an, dass beide nicht galten, und schon hatte man eine völlig andere Mengenlehre. Oder man konnte auch die Gültigkeit eines der beiden Axiome und die Nichtgültigkeit des jeweils anderen annehmen und hatte wiederum zwei neue Mengenlehren.
Es war so etwas wie eine Neuauflage der Krise der euklidischen Geometrie, nur schlimmer. Die fundamentale Rolle, die man der Mengenlehre als potentieller Basis für die gesamte Mathematik zuerkannt hatte, machte das Problem für die Platoniker sehr viel einschneidender. Wenn man wirklich einfach dadurch, dass man eine andere Auswahl an Axiomen wählte, alle möglichen Mengenlehren formulieren konnte, sprach das nicht dafür, dass Mathematik nichts als eine Erfindung des Menschen war? Der Sieg der Formalisten schien gewiss.
Eine unvollständige Wahrheit
Während Frege sich engagiert mit der Bedeutung von Axiomen herumschlug, focht der Hauptvertreter des Formalismus, der große deutsche Mathematiker David Hilbert (Abbildung 51) für den völligen Verzicht auf jedwede Interpretation mathematischer Formeln. Hilbert war nicht interessiert an Fragen wie der, ob die Mathematik aus den Konstrukten der Logik hergeleitet werden konnte. Für ihn bestand die Mathematik vielmehr aus einem Haufen für sich genommen bedeutungsloser Formeln – strukturierten Mustern aus willkürlich gewählten Zeichen. Die Aufgabe, das Fundament der Mathematik zu legen, wurde von Hilbert einem neuen Wissenszweig übertragen, den er als «Metamathematik» bezeichnete. Seine Metamathematik hatte zumZiel, mit Hilfe der Methoden der mathematischen Analytik zu beweisen, dass ein formalistischer Ansatz – das Herleiten von Sätzen aus Axiomen mit Hilfe strenger Schlussregeln – widerspruchsfrei gelingen konnte. Anders ausgedrückt, Hilbert glaubte, auf mathematischem Wege beweisen zu können, dass Mathematik funktioniert. Wie er es ausdrückt:
Abbildung 51
Meine Untersuchungen zur Neubegründung der Mathematik bezwecken nichts Geringeres, als die allgemeinen Zweifel an der Sicherheit des mathematischen Schließens definitiv aus der Welt zu schaffen. … Alles, was im bisherigen Sinne die Mathematik ausmacht, wird streng formalisiert, so daß die eigentliche Mathematik oder die Mathematik in engerem Sinne zu einem Bestand an Formeln wird … Zu der eigentlichen so formalisierten Mathematik kommt eine gewissermaßen neue Mathematik, eine Metamathematik, die zur Sicherungjener notwendig ist, in der – im Gegensatz zu den rein formalen Schlußweisen der eigentlichen Mathematik – das inhaltliche Schließen zur Anwendung kommt, aber lediglich zum Nachweis der Widerspruchsfreiheit der Axiome. … Auf diese Weise vollzieht sich die Entwickelung der mathematischen Gesamtwissenschaft in beständigem Wechsel auf zweierlei Art: durch Gewinnung neuer beweisbarer Formeln aus den Axiomen mittels formalen Schließens und andererseits durch Hinzufügung neuer Axiome nebst dem Nachweis der Widerspruchsfreiheit mittels inhaltlichen Schließens.
Hilberts Programm opferte Inhalt oder Bedeutung, um das Fundament zu sichern. Seinen formalistischen Mitstreitern galt die Mathematik demzufolge wirklich als Spiel, und ihr Ziel bestand darin, schlüssig zu zeigen, dass dieses Spiel durch und durch widerspruchsfrei sein konnte. Angesichts all der Fortschritte bei der Axiomatisierung mathematischer Inhalte schien die Umsetzung dieses formalistischen beweistheoretischen Traums in greifbarer Nähe zu liegen.
Doch nicht alle waren sicher, dass der von Hilbert eingeschlagene Weg der richtige war. Ludwig Wittgenstein (1889–1951), von manchen Leuten als größter Philosoph des 20. Jahrhunderts betrachtet, sah Hilberts Anstrengungen auf dem Gebiet der Metamathematik als bloße Zeitverschwendung. Man könne keine Regel zur Anwendung einer anderen Regel formulieren,
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