Ist Gott ein Mathematiker
argumentierte er. Mit anderen Worten: Wittgenstein glaubte nicht, dass das Verstehen eines «Spiels» auf der Konstruktion eines anderen basieren könne. Wenn man sich über das Wesen der Mathematik im Unklaren sei, könne einem kein Beweis der Welt helfen. Doch niemand erwartete den Blitz, der dann einschlagen sollte: Der vierundzwanzigjährige Kurt Gödel trieb mit einem einzigen gewaltigen Schlag einen Pflock mitten ins Herz des Formalismus.
Kurt Gödel (Abbildung 52) wurde am 28. April 1906 in der mährischen Stadt Brünn, heute Brno, in der Tschechischen Republik, geboren. Damals gehört Brünn zur österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie, und Gödel wuchs in einer großbürgerlichen, deutschsprachigen Familie auf. Sein Vater Rudolf August war Miteigentümer einer Textilfabrik, und seine Mutter Marianne Gödel sorgte dafür, dass Kurt eine umfassende Erziehung und Ausbildung –in Mathematik, Geschichte, Sprachen und Religion – genoss. Der heranwachsende Gödel entwickelte ein lebhaftes Interesse an Mathematik und Philosophie und schrieb sich mit achtzehn Jahren an der Universität Wien ein, wo er sich hauptsächlich der mathematischen Logik zuwandte. Insbesondere faszinierten ihn Russells und Whiteheads Werk
Prinicipia Mathematica
und der Hilbert’sche Ansatz (auch bekannt als Hilbert’sches Programm), und für seine Dissertation wählte er das Thema
Vollständigkeit.
Das Ziel dieser Untersuchung bestand im Prinzip darin zu zeigen, ob der von Hilbert vertretene formalistische Ansatz hinreichte, sämtliche wahren Aussagen der Mathematik abzuleiten. Im Jahr 1930 promovierte Gödel, und nur ein Jahr später legte er seine
Unvollständigkeitssätze
vor, die Schockwellen durch die mathematische und philosophische Welt sandten.
Abbildung 52
In rein mathematischer Sprache klingen die beiden Sätze ziemlich technisch und nicht übermäßig aufregend:
1. In jedem formalen System S, in dem ein gewisses Maß an elementarer Arithmetik möglich ist, gibt es einen unentscheidbaren Satz – einen Satz, der in
S
nicht beweisbar und dessen Negierung ebenso wenig beweisbar ist.
2. Kein formales System
S,
in dem ein gewisses Maß an elementarer Arithmetik möglich ist, lässt sich innerhalb seiner selbst als widerspruchsfrei beweisen.
Die Worte mögen sich harmlos lesen, aber die Konsequenzen für den formalistischen Ansatz waren von ungeheurer Tragweite. Ein bisschen naiv ausgedrückt, bewiesen die beiden Unvollständigkeitssätze, dass Hilberts formalistisches Programm mehr oder minder von Anbeginn an zum Scheitern verurteilt gewesen war. Gödel zeigte, dass jedes formale System, das leistungsfähig genug ist, um überhaupt von Interesse zu sein, zwangsläufig entweder unvollständig oder nicht schlüssig ist. Das heißt, es wird immer Behauptungen geben, die das formale System weder beweisen noch widerlegen kann. Im schlimmsten Falle würde das System zu Widersprüchen führen. Da für jede Aussage
T
immer gelten muss, dass entweder
T
oder nicht-
T
wahr ist, bedeutet der Nachweis dessen, dass ein endliches formales System gewisse Behauptungen weder beweisen noch widerlegen kann, dass es immer wahre Aussagen geben wird, deren Wahrheit sich innerhalb des Systems nicht beweisen lässt. Mit anderen Worten: Gödel bewies, dass kein formales System, das auf einer endlichen Anzahl an Axiomen und bestimmten Schlussregeln fußt, jemals die Gesamtheit aller Wahrheiten der Mathematik einfangen kann. Man kann bestenfalls hoffen, dass die akzeptierten Axiomatisierungen nur unvollständig, nicht aber in sich widersprüchlich sind.
Gödel selbst glaubte, dass ein unabhängiger platonischer Begriff von mathematischer Wahrheit existiere. In einem 1947 veröffentlichten Artikel schrieb er, trotz ihrer Distanz zu Sinneserfahrungen würden wir über so etwas wie eine Wahrnehmung für die Gegenstände der Mengenlehre verfügen. Dies ließe sich daraus ersehen, dass die Axiome sich uns als wahr aufdrängten. Er sehe keinen Grund dafür, dass wir weniger Vertrauen in diese Art Wahrnehmung, also in die mathematische Intuition, haben sollten als in unsere Sinneswahrnehmungen.Just in dem Augenblick also, da die Formalisten sich zum Siegeszug rüsteten, war dank einer ironischen Wendung des Schicksals Kurt Gödel – ein bekennender Platoniker – auf der Bildfläche erschienen und fuhr dem formalistischen Programm gründlich in die Parade.
Der berühmte Mathematiker John von Neumann (1903–1957), der zu jener Zeit Vorlesungen über
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