Ist Gott ein Mathematiker
auf der Basis dieser Postulate eine Geometrie hergeleitet. Zermelo – der Russells Paradoxon bereits 1900unabhängig von diesem ebenfalls entdeckt hatte – schlug eine Möglichkeit vor, wie sich die Mengentheorie auf ein ähnliches axiomatisches Fundament würde gründen lassen. Russells Paradoxon wurde in dieser Theorie durch eine sorgsame Wahl von Konstruktionsprinzipien umgangen, die Widersprüchliches wie eine «Menge aller Mengen» eliminierten. Zermelos Vorlage wurde 1922 von dem israelischen Mathematiker Abraham Fraenkel (1891–1965) weiter ausgebaut zu dem, was inzwischen als Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre bekannt geworden ist (John von Neumann nahm 1925 noch einige wichtige Änderungen daran vor). Die Dinge wären nahezu vollkommen gewesen (auch wenn der Beweis der Widerspruchsfreiheit noch ausstand), hätten nicht einige nagende Zweifel bestanden. Es gab da ein Axiom – das
Auswahlaxiom –,
das den Mathematikern ernsthaft im Magen lag. Einfach ausgedrückt, besagt dieses Axiom: Wenn
X
eine Menge von nichtleeren Mengen ist, dann können wir aus jeder Menge in
X
ein beliebiges Element herausgreifen und damit eine neue Menge
Y
begründen. Sie können sich problemlos davon überzeugen, dass diese Aussage wahr ist, wenn die Anzahl der Mengen in
X
nicht unendlich ist. Angenommen, wir haben einhundert Schachteln, in jeder davon befindet sich mindestens eine Murmel, so können wir leicht aus jeder Schachtel eine Murmel entnehmen und eine neue Menge
Y
aus einhundert Murmeln aufmachen. In diesem Falle benötigen wir kein Extraaxiom, wir können leicht zeigen, dass eine solche Auswahl möglich ist. Diese Aussage gilt sogar für unendliche Mengen
X,
solange wir präzise spezifizieren können, wie wir diese Auswahl treffen. Stellen Sie sich zum Beispiel eine unendliche Menge an nichtleeren Mengen aus natürlichen Zahlen vor. Die Elemente dieser Menge könnten Mengen sein wie {2, 6, 7}, {1, 0}, {346, 5, 11, 1257}, {alle natürlichen Zahlen zwischen 381 und 10.457} und so weiter. In jeder dieser Mengen von natürlichen Zahlen gibt es ein kleinstes Element. Unsere Auswahl könnte demnach eindeutig definiert sein als «das kleinste Element aus jeder dieser Mengen». Auch in diesem Falle ist die Notwendigkeit für das Auswahlaxiom nicht gegeben. Das Problem ergibt sich erst bei unendlichen Mengen und unter solchen Umständen, unter denen wir die Auswahl nicht definieren können. Unter diesen Umständen endet der Auswahlprozess nie, und die Existenz einer Menge aus je genaueinem Element aus jeder der Mengen in
X
wird zu einer Glaubensfrage.
Das Auswahlaxiom hat vom ersten Tag an für heftige Kontroversen unter den Mathematikern gesorgt. Die Tatsache, dass das Axiom die Existenz bestimmter mathematischer Gegebenheiten (zum Beispiel einer Auswahlfunktion) annimmt, ohne mit einem handfesten Beispiel dafür aufwarten zu können, geriet prompt unter Beschuss, vor allem aus dem Lager der
Konstruktivisten
(einer philosophischen Position, die dem
Intuitionismus
verwandt ist). Die Konstruktivisten argumentierten, alles, was existiert, müsse nachvollziehbar zu konstruieren sein. Andere Mathematiker versuchten, das Auswahlaxiom zu umgehen und nur die anderen Axiome der Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre zu verwenden.
In Anbetracht der empfundenen Unzulänglichkeit des Auswahlaxioms begannen sich manche Mathematiker zu fragen, ob sich dieses Axiom mit Hilfe der anderen Axiome vielleicht würde beweisen oder womöglich endgültig widerlegen lassen. Die Geschichte des fünften Euklidischen Axioms schien sich wahrhaftig zu wiederholen. Eine Teilantwort wurde schließlich Ende der 1930er Jahre gegeben. Kurt Gödel (1906–1978), einer der einflussreichsten Logiker aller Zeiten, bewies, dass das Auswahlaxiom und eine andere berühmte Annahme, die von dem Begründer der Mengenlehre, Georg Cantor, genauer untersucht worden war und später als
Kontinuumhypothese
in die Geschichte eingehen sollte, beide mit den anderen Zermelo-Fraenkel’schen Axiomen vereinbar waren. Das heißt, keine der beiden Hypothesen konnte vermittels der anderen Axiome der Mengenlehre zurückgewiesen werden. Zusätzliche Beweise des amerikanischen Mathematikers Paul Cohen (1934–2007, der tragischerweise verstarb, während ich noch an diesem Buch schrieb) bewiesen die komplette Unabhängigkeit von Auswahlaxiom und Kontinuumhypothese. Mit anderen Worten: Das Auswahlaxiom lässt sich auf der Basis der anderen Axiome der Mengenlehre weder beweisen noch widerlegen. Genauso
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