Ist Gott ein Mathematiker
wirft?
Platon zufolge unterscheiden wir Menschen uns prinzipiell nicht von jenen Gefangenen in der Höhle, die die Schatten für ihre Wirklichkeithalten. (Abbildung 9 zeigt eine Radierung von Jan Saenredam aus dem Jahr 1604, die diese Allegorie darstellt). Vor allem, so Platon, gelten mathematische Wahrheiten nicht für Kreise, Dreiecke und Quadrate, die sich auf ein Stück Papyrus oder mit einem Stock in den Sand zeichnen lassen, sondern für abstrakte Objekte, die in einer idealen Welt der wahren und vollkommenen Formen existieren. Diese platonische Welt der mathematischen Formen ist eine andere als die physikalische Welt, und es ist diese erste Welt, in der mathematische Aussagen wie der Satz des Pythagoras wahr sind und gelten. Das rechtwinklige Dreieck, das wir vielleicht auf ein Stück Papier zeichnen, ist nichts weiter als eine unvollkommene Kopie – eine Annäherung – an das wahre abstrakte Dreieck.
Eine weitere grundlegende Fragestellung, mit der sich Platon ausführlicher befasst hat, betrifft das Wesen des mathematischen Beweises als eines Verfahrens, das auf
Postulaten
und
Axiomen
basiert. Beides sind Grundaussagen, die als selbstverständlich gelten. Das erste euklidische Postulat beispielsweise besagt, «dass man von jedem Punkt nach jedem Punkt die Strecke ziehen kann». In
Der Staat
vereint Platon auf wunderbare Weise das Konzept der Postulate mit seiner Vorstellung von der Welt der mathematischen Formen:
Ich denke, du weißt, daß die Leute, die sich mit Geometrie und Rechnungen und ähnlichen Dingen beschäftigen, von bestimmten Voraussetzungen ausgehen. Bei jedem Beweisgang nehmen sie das Ungerade und das Gerade, die Figuren und die drei Arten von Winkeln und anderes, was damit verwandt ist, und legen es, als ob sie darüber Bescheid wüßten, ihrer Untersuchung zugrunde. Dabei denken sie nicht daran, sich und anderen darüber Rechenschaft zu geben, da diese Dinge ja jedem klar seien. Von diesen Grundlagen aus leiten sie nun gleich das weitere ab und gelangen schließlich folgerichtig zu dem, worauf sie es mit ihrer Untersuchung abgesehen hatten … Und du weißt doch auch, daß sie die sichtbaren Gestalten zu Hilfe nehmen und ihre Reden auf diese beziehen, obschon eigentlich nicht sie den Gegenstand ihres Nachdenkens bilden, sondern jene, von denen diese die Abbilder sind. Wegen des Vierecks selbst führen sie ihre Beweise, oder wegen der Diagonale selbst, aber nicht wegen derjenigen, die sie zeichnen. Und so auch bei jedem anderen: die (sichtbaren)Gestalten selbst, die sie da modellieren und zeichnen und wovon es auch wieder Schatten und Spiegelbilder im Wasser gibt, die verwenden sie ihrerseits als Bilder, während sie jenes zu erblicken suchen, das man auf keine andere Weise erblicken kann als mit dem vernünftigen Nachdenken.
Platons Ansichten bildeten die Grundlage dessen, was in der Philosophie im Allgemeinen und in Diskussionen um das Wesen der Mathematik im Besonderen als
Platonismus
bezeichnet wird. Der Platonismus im weitesten Sinne vertritt den Glauben an eine abstrakte ewige und unveränderliche Realität, die unabhängig von der vergänglichen Welt, die wir mit unseren Sinnen wahrnehmen, existiert. Dem Platonismus zufolge ist die reale Existenz mathematischer Objekte eine ebenso objektive Tatsache wie die Existenz des Universums selbst. Und es existieren nicht nur natürliche Zahlen, Kreise und Quadrate, sondern auch imaginäre Zahlen, Funktionen, Fraktale, nichteuklidische Geometrien und unendliche Mengen, dazu eine Vielzahl an Lehrsätzen über all diese Entitäten. Kurz, jedes mathematische Konzept und jede «objektiv wahre» Aussage (die Definition folgt später), die je formuliert oder gedacht wurden, sowie eine unendliche Zahl an Konzepten und Aussagen, die noch nicht entdeckt oder gedacht wurden, sind absolute Entitäten oder Universalien, die weder geschaffen noch zerstört werden können. Sie existieren ungeachtet dessen, ob wir um sie wissen oder nicht. Es erübrigt sich zu sagen, dass diese Objekte nichts physisch Greifbares sind – sie existieren in einer autonomen Welt des zeitlos Seienden. Die Platoniker betrachteten die Mathematiker wie Erforscher fremder Länder – als solche konnten sie mathematische Wahrheiten nur entdecken, nicht aber erfinden. Genauso, wie Amerika bereits lange vor seiner Entdeckung durch Kolumbus (oder Leif Eriksson) vorhanden war, existierten in der platonischen Ideenwelt mathematische Lehrsätze, lange bevor die Babylonier anfingen,
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