Ist Gott ein Mathematiker
die ersten mathematischen Überlegungen anzustellen. Für Platon waren die einzigen Dinge, die wahrhaft und wirklich ganz und gar existierten, jene abstrakten Formen und Ideen der Mathematik; denn nur in der Mathematik, so seine feste Überzeugung, können wir absolut sicheres und objektives Wissen erlangen. Folgerichtig war inPlatons Denken die Mathematik eng mit dem Göttlichen verknüpft. In seinem Dialog
Timaios
bedient sich der Schöpfergott der Mathematik, um die Welt zu erschaffen, und in
Der Staat
gilt die Kenntnis der Mathematik als entscheidender Schritt zum Erfassen der göttlichen Vorsehung. Platon ist niemand, der sich der Mathematik bedient, um Naturgesetze zu formulieren, die durch Experimente getestet werden können. Für ihn ist der mathematisch schlüssige Charakter der Welt schlicht Folge der Tatsache, dass Gott sich immer und überall der Mathematik bedient hat.
Abbildung 9
Platon weitete seine Idee der «wahren Formen» auch auf andere Disziplinen aus, hier insbesondere auf die Astronomie. Er vertrat die Ansicht, dass wir in der wahren Astronomie den Himmel sich selbst überlassen und nicht versuchen sollten, die Anordnungen und offenkundigen Bewegungen der Sterne zu erklären. Platon betrachtete die wahre Astronomie vielmehr als eine Wissenschaft, die sich mit den Gesetzen der Bewegung in einer idealen, mathematischen Welt befasst, für die der beobachtbare Himmel eine bloße Illusion darstellt, sowie auf Papier gezeichnete geometrische Figuren nur unvollkommene Abbilder wahrer Figuren sind.
Platons Gedanken zur Astronomie werden sogar von inbrünstigen Platonikern kontrovers betrachtet. Verteidiger seiner Überlegungen erklären, was Platon wirklich meine, sei nicht, dass wahre Astronomie sich mit einem idealen Himmel befassen solle, der nichts mit dem beobachtbaren zu tun habe, sondern dass sie sich nicht darin erschöpfen dürfe, sich mit den von der Erde aus beobachtbaren Bewegungen der Sterne abzugeben, und sich stattdessen mit den tatsächlichen Bewegungen der Sterne befassen müsse. Andere halten dagegen, dass eine zu wörtliche Auslegung der platonischen Aussagen der Entwicklung einer beobachtenden Astronomie als Wissenschaft ernsthaft im Weg gestanden hätte. Doch wie auch immer man die Haltung Platons interpretieren mag – was die Grundlagen der Mathematik betrifft, muss der Platonismus als eine der führenden Lehren betrachtet werden.
Aber existiert die platonische Welt der Mathematik wirklich? Und wenn ja, wo genau befindet sie sich? Und was sind jene «objektiv wahren» Aussagen, die diese Welt bevölkern? Oder hängen die Mathematiker, die dem Platonismus nahestehen, schlicht und einfach derselben romantischen Art von Überzeugung an, von der auch der große Renaissancekünstler Michelangelo beseelt war? Einer Anekdote zufolge glaubte Michelangelo fest daran, dass seine fantastischen Skulpturen in den von ihm bearbeiteten Marmorblöcken bereits vorhanden waren und seine Rolle einzig darin bestand, sie freizulegen.
Moderne Platoniker (jawohl, die gibt es durchaus, und ihre Ansichten kommen in späteren Kapiteln zu Wort) sind fest davon überzeugt, dass die platonische Welt der mathematischen Formen und Begriffe Realität ist, und warten mit, wie sie finden, sehr konkreten Beispielen für objektiv wahre mathematische Aussagen aus dieser Welt auf.
Betrachten Sie folgende leicht nachzuvollziehende Aussage: Jede gerade ganze Zahl, die größer ist als 2, lässt sich als Summe zweier Primzahlen (Zahlen, die nur durch die Zahl 1 oder durch sich selbst teilbar sind) darstellen. Diese einfach klingende Aussage ist unter dem Namen Goldbach’sche Vermutung bekannt, denn eineganz ähnliche Annahme ist in einem Brief zu lesen, den der preußische Amateurmathematiker Christian Goldbach am 7. Juni 1742 geschrieben hat. Sie können die Gültigkeit dieser Aussage für die ersten geraden Zahlen leicht selbst überprüfen: 4 = 2 + 2, 6 = 3 + 3, 8 = 3 + 5, 10 = 3 + 7 (oder 5 + 5), 12 = 5 + 7, 14 = 3 + 11 (oder 7 + 7), 16 = 5 + 11 (oder 3 + 13) und so weiter. Die Aussage ist so einfach, dass der britische Mathematiker G. H. Hardy einst erklärte, jeder «Narr hätte darauf kommen können». Tatsächlich hatte der große französische Mathematiker und Philosoph René Descartes diese Vermutung bereits lange vor Goldbach geäußert. Sie zu beweisen aber hat sich als etwas weit Schwierigeres erwiesen. Im Jahr 1966 gelang dem chinesischen Mathematiker Chen Jingrun ein wichtiger Schritt in
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