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Ist Gott ein Mathematiker

Ist Gott ein Mathematiker

Titel: Ist Gott ein Mathematiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Livio
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Mechanik
[Kursivierung von mir] zu gewinnen. Dieses Verfahren ist nach meiner Überzeugung auch für den Beweis der Sätze selbst nicht weniger nützlich; denn gewisse Dinge sind mir erst durch eine mechanische Methode klar geworden, mußten aber nachher geometrisch bewiesen werden, weil ihre Behandlung nach der genannten Methode keinen wirklichen Beweis liefert. Denn es ist offenbar leichter, wenn wir durch die Methode vorher einige Kenntnis von den Fragen gewonnen haben, den Beweis zu finden, als ihn ohne vorläufige Kenntnis zu finden.

    Abbildung 13
    Archimedes berührt hier einen der wichtigsten Punkte der wissenschaftlichen und mathematischen Forschung – es ist oftmals schwieriger herauszufinden, wie die wichtigen Fragen oder Thesen lauten, als Lösungen für bekannte Fragen oder Beweise für bereits bekannte mathematische oder physikalische Gesetzmäßigkeiten zu finden. Wie also kam Archimedes zu seinen Theoremen? Mit seinem unerreichten Verständnis für die Mechanik und das Gleichgewicht von Kräftensowie für die Prinzipien der Hebelwirkung hat er in Gedanken Körper oder Flächen unbekannten Inhalts gegen solche gewogen, die ihm in ihren Eigenschaften bekannt waren. Sobald er auf diese Weise eine vorläufige Antwort hinsichtlich des unbekannten Flächen- oder Volumeninhalts gewonnen hatte, fand er es sehr viel leichter, auf geometrischem Wege die Richtigkeit dieser Antwort zu beweisen. Die
Methodenlehre
beginnt infolgedessen mit einer Reihe von Aussagen über die Schwerpunkte von Flächen und Körpern und schreitet dann fort zur Formulierung von geometrischen Sätzen und deren anschließendem Beweis.
    Archimedes’ Vorgehen ist in zweierlei Hinsicht außergewöhnlich. Erstens hat er damit im Grunde das Prinzip des
Gedankenexperiments
in die seriöse Forschung eingeführt. Der Physiker Hans Christian Ørsted sollte im 19. Jahrhundert diesen Begriff erstmals für ein Experiment verwenden, das nicht in der Realität, sondern allein im Kopf durchgeführt wird. In der Physik, für die dieses Vorgehen extrem fruchtbar war und ist, unternimmt man Gedankenexperimente entweder, um vor der Durchführung eines realen Experiments Einsichten zu gewinnen, oder aber in Fällen, in denen das reale Experiment undurchführbar ist. Zweitens – und wichtiger noch – befreite Archimedes die Mathematik von den in gewisser Weise künstlichen Ketten, die Euklid und Platon ihr angelegt hatten. Für diese beiden Denker gab es eine – und nur eine – richtige Art, Mathematik zu betreiben. Man hatte bei den Axiomen zu beginnen und sich dann über eine lückenlose Reihe von einwandfreien logischen Schritten mittels genau beschriebener Hilfsmittel voranzuarbeiten. Der Freigeist Archimedes hingegen bediente sich einfach jeder Art von Munition, die ihm unterkam, um neue Probleme zu formulieren und zu lösen. Er zögerte nicht, Verknüpfungen zwischen mathematischen Objekten (den platonischen Formen an sich) und der physikalischen Realität (reale feste Körper oder Flächen) zu erforschen und zu nutzen, um seine Mathematik voranzubringen.
    Und als Letztes schließlich wird Archimedes’ Status als Magier manifestiert durch seine Vorwegnahme der
Integral- und Differentialrechnung –
eines Zweigs der Mathematik, dessen formale Entwicklung erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts von dem Engländer Isaac Newtonund unabhängig von diesem von dem Deutschen Gottfried Wilhelm Leibniz geleistet wurde.

    Abbildung 14
    Die Grundidee hinter der
Integration
ist im Grunde ganz einfach (man muss nur erst einmal darauf kommen). Angenommen, Sie hätten die Fläche eines Ellipsensegments zu bestimmen. Sie können der Fläche viele kleine Rechtecke von gleicher Breite einschreiben und die Summe all ihrer Flächen zusammenzählen (Abbildung 14). Natürlich wird die von Ihnen errechnete Summe der tatsächlichen Segmentfläche umso näher kommen, je schmaler Sie die Rechtecke wählen. Mit anderen Worten: Die Segmentfläche entspricht dem Wert, den die Summe aller Rechteckflächen annehmen würde, wenn deren Zahl gegen unendlich ginge. Diesen Grenzwert zu bestimmen erfordert ein Rechenverfahren, das man als
Integration
bezeichnet. Archimedes bediente sich einer dem Verfahren, das ich soeben beschrieben habe, sehr ähnlichen Methode, um die Volumina und Oberflächen von Kugeln, Kegeln, Ellipsoiden und Paraboloiden (Körpern, die man erhält, wenn man Ellipsen und Parabeln um ihre Achse rotieren lässt) zu ermitteln.
    Bei der
Differentialrechnung
besteht

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