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Ist Gott ein Mathematiker

Ist Gott ein Mathematiker

Titel: Ist Gott ein Mathematiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Livio
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sich als höchst bedeutsam für Descartes’ intellektuelle Entwicklung erweisen. Der Überlieferung zufolge soll er beim Umherschlendern in den Straßen plötzlich ein Schild erblickt haben, das offenbar ein mathematisches Problem präsentierte. Descartes habe den nächstbesten Passanten gebeten, ihm den Text aus dem Niederländischen ins Lateinische oder Französische zu übersetzen. Wenige Stunden später sei es ihm gelungen, das Problem zu lösen und sich selbst davon zu überzeugen, dass er eine mathematische Begabung besaß. Der Übersetzer war, so stellte sich heraus, niemand anderes als der niederländische Mathematiker und ForscherIsaac Beeckman (1588–1637), dessen Einfluss auf Descartes’ physikalisch-mathematische Untersuchungen über Jahre anhalten sollte. Die nächsten neun Jahre pendelte Descartes zwischen dem Tohuwabohu von Paris und dem militärischen Dienst in verschiedenen Armeen hin und her. In einem von den Wirrnissen und Schrecken der religiösen und politischen Kämpfe des Dreißigjährigen Krieges geschüttelten Europa war es für Descartes recht leicht, irgendwo – in Prag, Deutschland oder Transsylvanien – Schlachten oder Bataillone auf dem Kriegszug zu finden, denen er sich anschließen konnte. Dennoch blieb er auch während dieser Zeit, wie er es ausdrückte, «mit Kopf und Kragen» dem Studium der Mathematik verschrieben.
    Am 10. November 1619 hatte Descartes drei Träume, die nicht nur dramatische Auswirkungen auf
sein
weiteres Leben haben, sondern wohl auch den Beginn der modernen Welt markieren sollten. Als er später von diesen Geschehnissen berichtete, heißt es an einer Stelle, er sei von «großer Leidenschaft erfüllt gewesen» und habe «die Grundfesten einer wundervollen Wissenschaft vor sich gesehen». Worum also ging es in diesen folgenschweren Träumen?
    Genau genommen waren zwei davon Albträume. Im ersten fand Descartes sich im Sog eines schweren Wirbelwinds gefangen, der ihn heftig auf seiner linken Ferse rotieren ließ. Außerdem schreckte ihn ein nicht enden wollendes Gefühl, beim nächsten Schritt stürzen zu müssen. Ein alter Mann erschien und versuchte ihm eine Melone aus einem fremden Land anzubieten. Der zweite Traum war ebenfalls eine Schreckensvision. Er war in einem Raum gefangen, der von ominösen Donnerschlägen widerhallte und in dem überall Funken sprühten. Der dritte Traum vermittelte im Unterschied zu den beiden ersten ein Bild der Ruhe und inneren Einkehr. Als Descartes seinen Blick durch den Raum schweifen lässt, sieht er auf einem Tisch ein Buch liegen. Er schlägt es auf und erkennt, dass es sich um ein Lexikon handelt. Im gleichen Augenblick erscheint aus dem Nichts ein weiteres Buch, eine Gedichtsammlung mit dem Titel
Corpus Poetarum.
Er schlägt die Anthologie an beliebiger Stelle auf, und sein flüchtiger Blick erhascht die Anfangszeilen eines Gedichts des römischen Dichters Ausonius, die lauteten:
«Quod vitae sectabor iter?»
(«Welchem Weg soll ich folgen?»). Wiederum aus dem Nichts erscheint auf wundersame Weise einMann, der einen anderen Vers rezitiert: «Est et non» («Es ist und ist doch nicht»). Descartes wollte ihm die Zeile des Ausonius aus besagter Gedichtsammlung zeigen, aber noch während er nach dieser suchte, löste die ganze Vision sich in Nichts auf.
    Träume haben es an sich, dass ihre Bedeutung weniger an ihrem tatsächlichem Inhalt, der oftmals höchst abstrus und bizarr ausfallen kann, als vielmehr an der Deutung gemessen wird, die der Träumende dem Geträumten im Nachhinein angedeihen lässt. In Descartes’ Fall war die Wirkung dieser drei so rätselhaften Träume erstaunlich. Das Lexikon versinnbildlichte für ihn die kollektive wissenschaftliche Erkenntnis, die Anthologie der Poesie stand für Philosophie, Offenbarung und Leidenschaft. Das «Ja und nein» – das berühmte Gegensatzpaar des Pythagoras – verstand er als die Repräsentation von Wahrheit und Unwahrheit. (Es überrascht wohl niemanden, dass einige Psychoanalytiker bei ihren Deutungen im Zusammenhang mit der Melone sexuelle Bezüge vermutet haben.) Descartes war absolut davon überzeugt, dass die Träume ihm den Weg wiesen zu einer Vereinheitlichung des gesamten menschlichen Wissens mit Hilfe der Vernunft. Im Jahr 1621 schied er aus dem Militärdienst aus, verbrachte die nächsten fünf Jahre jedoch weiterhin mit Reisen und dem Studium der Mathematik. Jeder, der Descartes in dieser Zeit begegnete, darunter auch der einflussreiche geistliche

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