Ist Gott ein Mathematiker
Oder, wie Woody Allen es einmal ausdrückte: «Was ist, wenn alles bloß Illusion ist und nichts existiert? In dem Fall habe ich entschieden zu viel für meinen Teppich bezahlt.»
Für Descartes führte diese Flut an offenen Fragen letztlich zu dem, was zu seinem Markenzeichen und meistzitierten Wahlspruch werden sollte:
Cogito ergo sum
(«Ich denke, also bin ich»). Mit anderen Worten: Hinter gedachten Gedanken muss ein bewusster Geist stehen. So paradox es auch erscheinen mag: Der Akt des Zweifelns selbst kann nicht bezweifelt werden! Und Descartes macht sich an die Herkulesaufgabe, auf dieser scheinbar so harmlosen Ausgangsbasis ein komplettes Gebäude an verlässlichem Wissen zu errichten. Ob Philosophie, Optik, Mechanik, Medizin, Embryologie oder Meteorologie – Descartes versuchte sich in jeder dieser Disziplinen und brachte es in jeder davon zu bemerkenswerten Leistungen. Dennoch glaubte er trotz seines Festhaltens an der menschlichen Fähigkeit, logisch zu schlussfolgern, nicht daran, dass Logik allein imstande sei, fundamentale Wahrheiten zu enthüllen. Er war mehr oder weniger zu derselben Schlussfolgerung wie Galilei gelangt, als er schrieb: «… dass, was die Logik betrifft, ihre Syllogismen und ein großer Teil ihrer Anweisungen vielmehr dazu dienen, die Dinge, die man weiß, anderen zu erklären … ohne Urteil über das, was man nicht weiß, zu reden, statt es zu lernen.» Um sicherzugehen, dass er festen Boden unter den Füßen hatte, versuchte Descartes daher in einem heroischen Unterfangen, die Fundamente ganzer Disziplinen neu zu errichten, wobei er sich stets und immer an die Prinzipien hielt, die er für sich aus der mathematischen Vorgehensweise herausdestilliert hatte. Er beschrieb diesesstrenge Vorgehen in seinen
Regulae ad directionem ingenii
(«Regeln zur Leitung des Geistes»). Diese begannen mit Wahrheiten, die ihm ähnlich zweifelsfrei gegeben schienen wie die Axiome in der euklidischen Geometrie; sodann versuchte er, schwierige Probleme auf kleinere, leichter handhabbare herunterzubrechen, und ging so Schritt für Schritt vom Ursprünglichen, Einfachen zum Verzwickten voran, wobei er auf dem Weg unablässig sein Vorgehen überprüfte, um sich zu vergewissern, dass keine potentielle Lösung übersehen worden war. Es erübrigt sich zu betonen, dass selbst bei einem so sorgsam konstruierten, skrupulös-mühsamen Voranschreiten auch Descartes’ Schlüsse nicht vor Fehlern gefeit waren. Ja, obschon er vor allem für seine monumentalen Durchbrüche in der Philosophie bekannt geworden ist, lagen die Beiträge von ihm, die am längsten überdauert haben, auf dem Gebiet der Mathematik. Ich möchte mich an dieser Stelle vor allem auf jene eine brillante Idee konzentrieren, die John Stuart Mill als den «größten Schritt in der Geschichte der exakten Wissenschaft» bezeichnet hat, der je getan worden ist.
Die Mathematik eines New Yorker Stadtplans
Werfen Sie einmal einen Blick auf den Ausschnitt von Manhattan in Abbildung 23. Wenn Sie an der Ecke 34. Straße und 8 th Avenue stehen und jemanden an der Ecke 59. Straße und 5 th Avenue treffen wollen, haben Sie nicht das geringste Problem, sich zurechtzufinden, oder? Auf demselben Prinzip wie dieser Plan beruhte Descartes’ revolutionär neues geometrisches Konzept, das er seinem
Bericht über die Methode
in einem 106 Seiten langen Anhang mit dem Titel
La Géométrie
(«Die Geometrie») angefügt hatte. Schwer zu glauben, aber dieses bemerkenswert einfache Konzept hat die Mathematik revolutioniert.
Descartes ging von der uns heute vielleicht trivial anmutenden Feststellung aus, dass sich, wie es der Stadtplan von Manhattan zeigt, die Lage eines Punktes in einer Ebene (beispielsweise Punkt A in Abbildung 24a) durch ein einziges Zahlenpaar eindeutig angeben lässt. Diesen Umstand verwendete er im Weiteren, um eine höchst einflussreiche Kurventheorie – die
analytische Geometrie –
zu begründen. ZuEhren Descartes’ werden die beiden sich im rechten Winkel schneidenden Achsen, die uns bei vielen mathematischen Betrachtungen als Bezugssystem dienen, als
kartesisches Koordinatensystem
bezeichnet. Üblicherweise wird die horizontale Achse als «
x
-Achse», die vertikale als «
y
-Achse» bezeichnet, der Punkt, an dem sich beide schneiden, heißt «Ursprung». Der Punkt «A» in Abbildung 24a beispielsweise hat auf der
x
-Achse einen Wert von 3 und auf der
y
-Achse einen Wert von 5, man gibt das symbolisch wieder als Zahlenpaar (3, 5). (Der
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