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Ist Gott ein Mathematiker

Ist Gott ein Mathematiker

Titel: Ist Gott ein Mathematiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Livio
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großen Thema «Grundlagen der Mathematik» widmen konnten, forderten ein paar «kleinere» Themen ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Erstens bedeutete die Tatsache, dass nichteuklidische Geometrien formuliert und veröffentlicht worden waren, nicht automatisch, dass diese auch legitime Abkömmlinge der Mathematik waren. Noch immer herrschte die allgegenwärtigeFurcht vor Inkonsistenz – der Möglichkeit, dass es, wollte man diese Geometrien in letzter logischer Konsequenz ausreizen, irgendwann zu unlösbaren Widersprüchen kommen könnte. Ende der 1870er Jahre hatten der Italiener Eugenio Beltrami (1835–1900) und der Deutsche Felix Klein (1849–1925) gezeigt, dass, wenn die euklidische Geometrie in sich schlüssig war, dies auch für die nichteuklidischen gelten müsse. Das aber ließ die Frage offen, wie solide das Fundament der euklidischen Mathematik denn nun wirklich war. Dann gab es noch die wichtige Frage der Relevanz. Die meisten Mathematiker betrachteten die neuen Geometrien bestenfalls als amüsante Kuriositäten. Die euklidische Geometrie hingegen bezog einen Großteil ihres historischen Einflusses aus dem Umstand, dass sie als Beschreibung des realen Raumes angesehen, wohingegen die nichteuklidischen Geometrien anfangs als bar jeder Verbindung zur physikalischen Realität erachtet wurden. Infolgedessen wurden die nichteuklidischen Geometrien von vielen als die armen Verwandten der euklidischen Geometrie betrachtet. Henri Poincaré war ein bisschen entgegenkommender als die meisten, aber sogar er war nicht davon abzubringen, dass, wenn Menschen in eine Welt gebracht würden, in der die allgemein akzeptierte Geometrie eine nichteuklidische sei, wir es sicher noch immer nicht bequemer fänden, von der euklidischen zur nichteuklidischen Geometrie zu wechseln. Zwei Fragen standen daher unübersehbar im Raum: (1) Ließen sich die Geometrie (im Besonderen) und andere Zweige der Mathematik (im Allgemeinen) logisch solide auf axiomatische Fundamente gründen? Und (2) worin bestand die Beziehung (so es sie denn gab) zwischen der Mathematik und der physikalischen Welt?
    Manche Mathematiker stellten sich bezüglich der Grundlagen der Geometrie auf einen pragmatischen Standpunkt. Enttäuscht von der Erkenntnis, dass sich das, was sie für absolute Wahrheiten gehalten hatten, keineswegs als unerschütterlich, sondern als deutlich erfahrungsabhängig erwiesen hatte, wandten sie sich der Arithmetik zu – der Mathematik der Zahlen. Descartes’ analytische Geometrie, in der Punkten in der Ebene Zahlenpaare zugeordnet und Kreise durch gewisse Gleichungen hinreichend definiert sind (siehe Kapitel 4), lieferte genau das richtige Werkzeug für eine Neuausrichtung der Fundamente der Geometrie auf der Grundlage von Zahlen. Der deutscheMathematiker Jacob Jacobi (1804–1851) drückte diesen Gezeitenwechsel treffend aus, als er Platons «Gott betreibt unablässig Geometrie» ersetzte durch «Gott betreibt unablässig Arithmetik». In gewisser Hinsicht verlagerten solche Bestrebungen allerdings das Problem nur auf einen anderen Zweig der Mathematik. Zwar konnte der große deutsche Mathematiker David Hilbert (1862–1943) erfolgreich zeigen, dass die euklidische Geometrie schlüssig war, solange die Arithmetik schlüssig war, doch die Schlüssigkeit Letzterer war zu jenem Zeitpunkt alles andere als zweifelsfrei belegt.
    Was die Beziehung zwischen der Mathematik und der physikalischen Welt anging, lag etwas Neues in der Luft. Viele Jahrhunderte hindurch war die Deutung der Mathematik als maßgeblicher Lesart des Universums dramatisch und kontinuierlich hervorgehoben worden. Die Mathematisierung der Wissenschaften durch Galilei, Descartes, Newton, die Bernoullis, Pascal, Lagrange, Quetelet und andere hatte starke Hinweise darauf geliefert, dass der Natur ein mathematisches Design zugrunde liegt. Man konnte fraglos den Standpunkt vertreten: «Wenn die Mathematik nicht die Sprache des Universums ist, warum ist sie dann so erfolgreich, wie sie ist, und erklärt Dinge wie die grundlegenden Gesetze der Natur genauso schlüssig wie Merkmale des Menschen?»
    Sicher war den Mathematikern klar, dass die Mathematik sich nur mit ziemlich abstrakten platonischen Formen befasste, diese aber wurden als vernünftige Idealisierung tatsächlich existenter physikalischer Elemente verstanden. Ja, das Gefühl, das Buch der Natur sei in der Sprache der Mathematik geschrieben, war derartig tief verwurzelt, dass viele Mathematiker es komplett

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