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Ist Gott ein Mathematiker

Ist Gott ein Mathematiker

Titel: Ist Gott ein Mathematiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Livio
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BC
addiert.

    Abbildung 45
    Das war schon für sich genommen interessant, aber Graßmanns Ausdehnungslehre hielt noch mehr Überraschungen bereit. Man muss wissen, dass, wenn wir es hier mit Algebra zu tun haben statt mit Geometrie, ein Ausdruck wie
AB
das Produkt
A × B
beschreibt. In diesem Falle verletzt Graßmanns Forderung
BA
= –
AB
eines der heiligsten Gesetze der Arithmetik, welches besagt, dass es bei der Multiplikation zweier Größen gleichgültig ist, in welcher Reihenfolge man sie multipliziert. Graßmann stellte sich dieser beunruhigenden Situation und ersann eine neue, schlüssige Algebra (die man heute als
Graßmann-Algebra
oder
äußere Algebra
bezeichnet), die mehrere Multiplikationsprozesse zuließ und gleichzeitig Geometrien in einer beliebigen Zahl von Dimensionen möglich machte.
    In den 1860er Jahren verbreitete sich die Kunde von
n
-dimensionaler Geometrie wie ein Lauffeuer. Nicht nur Riemann hatte in seiner epochalen Vorlesung beliebig gekrümmte Räume und jede Anzahl an Dimensionen zugelassen, auch andere Mathematiker wie Arthur Cayley und James Sylvester in England und Ludwig Schläfli in der Schweiz leisteten ihre eigenen originellen Beiträge auf diesem Gebiet. Unter den Mathematikern machte sich das Gefühl breit, endlich von Fesseln befreit zu sein, mit denen die Mathematik Jahrhunderte hindurch an menschliche Begriffe von Raum und Zahl gekettet gewesen war. Diese Fesseln hatten in der Geschichte ein solches Gewicht bekommen, dass noch Ende des 18. Jahrhunderts der erfolgreiche Schweizer Mathematiker Leonhard Euler (1707–1783) der Ansicht Ausdruck verliehen hatte, die Mathematik im Allgemeinen sei die Wissenschaft von Größen beziehungsweise die Wissenschaft von der Untersuchung der Mittel zur Bestimmung von Größen. Erst im 19. Jahrhundert begann der Wind sich allmählich zu drehen.
    Erstens hatte die Einführung abstrakter geometrischer Räume und des Begriffs der Unendlichkeit (sowohl in der Geometrie als auch in der Mengenlehre) die Bedeutung von «Größe» und «Messung» bis zur Unkenntlichkeit verschwimmen lassen. Zweitens trugen die zahllosen Untersuchungen mathematischer Abstraktionen dazu bei, die Mathematik weiter und weiter von der physikalischen Realität zu entfernen und den Abstraktionen selbst Leben und «Existenz» einzuhauchen.
    Georg Cantor (1845–1918), der Begründer der
Mengenlehre,
fasste den neuen Geist der Freiheit, der die Mathematik erfasst hatte, in eine «Unabhängigkeitserklärung», der zufolge die Mathematik in ihrer Entwicklung völlig frei und allein an die selbstverständliche Forderung gebunden ist, dass ihre Konzepte konsistent sein und dazu in exakten, durch Definitionen geordneten Beziehungen zu solchen Begriffen stehen müssen, die bereits eingeführt, verfügbar und etabliert sind. Dem fügte der Algebraiker Richard Dedekind (1831–1916) sechs Jahre später hinzu: «Ich betrachte den Zahlbegriff als völlig unabhängig von den Vorstellungen oder Intuitionen zu Raum und Zeit … Zahlen sind freie Schöpfungen des menschlichen Geistes.» Das heißt, beide, Cantor wie Dedekind, betrachteten die Mathematik als abstraktes, rein gedankliches Unterfangen, eingeschränkt einzig durch die Erfordernis der Schlüssigkeit, ohne wie auch immer geartete Verpflichtung gegenüber dem Rechnen oder der Sprache der physikalischen Realität. Wie Cantor es zusammenfasste: «Das
Wesen der Mathematik
liegt in ihrer
Freiheit.»
    Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatten die meisten Mathematiker sich Cantors und Dedekinds Ansichten zur Freiheit der Mathematik zu eigen gemacht. Ziel der Mathematik war nicht länger die Suche nach Wahrheiten in der und über die Natur, sondern die Konstruktion abstrakter Strukturen – auf Axiome gegründeter Systeme – und das Durchdenken sämtlicher logischer Konsequenzen dieser Axiome.
    Man mag gedacht haben, dies würde allem Gegrübel darüber, ob Mathematik nur eine Entdeckung oder eine Erfindung sei, ein Ende machen. Wenn die Mathematik nichts weiter war als ein wenn auch überaus komplexes Spiel, das mit willkürlich festgesetzten Regeln gespielt wird, ist es doch sinnlos, an die physikalische Realität mathematischer Konzepte zu glauben, oder?
    Erstaunlicherweise rief die Ablösung der Mathematik von der physikalischen Realität bei manchen Mathematikern genau das gegenteilige Empfinden hervor. Statt sich auf den Standpunkt zu stellen, die Mathematik sei eine rein menschliche Erfindung, kehrten manche zur

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