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Ist Gott ein Mathematiker

Ist Gott ein Mathematiker

Titel: Ist Gott ein Mathematiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Livio
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es in der elliptischen Geometrie auf einer Kugeloberfläche
überhaupt keine
Parallele – im Unterschied zur euklidischen Geometrie, bei der es durch jeden Punkt exakt eine Parallele zu einer gegebenen Graden, und der hyperbolischen Geometrie, bei der es mindestens zwei Parallelen gibt. Riemann trieb die nichteuklidischen Konzepte noch einen Schritt weiter und führte Geometrien in gekrümmten Räumen mit drei, vier und mehrDimensionen ein. Einer der von Riemann weiterentwickelten Schlüsselbegriffe war der der
Krümmung –
ein Maß für die lokale Richtungsänderung einer Kurve oder Fläche, sprich dafür, wie stark diese von einer Geraden oder einer Ebene abweichen. So zeigt beispielsweise ein Ei entlang der Mitte eine sanftere Krümmung als an einem seiner beiden spitzer zulaufenden Enden. Riemann lieferte eine präzise mathematische Definition des Begriffs Krümmung in Räumen von beliebig vielen Dimensionen. Mit diesem Schritt besiegelte er die von Descartes gestiftete Vermählung von Geometrie und Algebra neu. In Riemanns Arbeiten finden Gleichungen mit einer beliebigen Anzahl an Variablen ihr geometrisches Gegenstück, und die Konzepte der neuen, weiterentwickelten Geometrien fanden Partner in entsprechenden Gleichungen.
    Der Glanz der euklidischen Geometrie sollte nicht das einzige Opfer sein, als sich im 19. Jahrhundert neue geometrische Horizonte eröffneten. Kants Vorstellung vom Raum überlebte nicht wesentlich länger. Erinnern Sie sich, dass Kant die Ansicht verfochten hatte, die Informationen, die uns unsere Sinne liefern, würden erst unter Zuhilfenahme euklidischer Vorgaben verarbeitet, bevor sie an unser Bewusstsein gelangen. Die Geometer des 19. Jahrhunderts entwickelten rasch ein Gefühl für die nichteuklidischen Geometrien und lernten, die Welt aus diesem Blickwinkel zu sehen. Die euklidische Wahrnehmung, so hatte sich gezeigt, war in Wirklichkeit doch erlernt und keineswegs intuitiv vorhanden. All diese dramatischen Entwicklungen veranlassten den französischen Mathematiker Henri Poincaré (1854–1912) zu der Schlussfolgerung: «Die geometrischen Axiome sind weder synthetische Urteile
a priori
noch experimentelle Tatsachen; es sind auf Übereinkommen beruhende Festsetzungen.» Mit anderen Worten: Sie sind
Konventionen.
Unsere Entscheidung zwischen den möglichen Konventionen wird durch experimentelle Fakten gelenkt, aber sie bleibt frei. Poincare betrachtete Axiome als «verkleidete Definitionen».
    Poincarés Ansichten waren nicht nur von den bislang beschriebenen nichteuklidischen Geometrien inspiriert, sondern auch von der Verbreitung anderer neuer Geometrien, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts nahezu außer Kontrolle zu geraten schien. In der
projektivenGeometrie
(wie sie sich ergibt, wenn ein Bild auf einem Zelluloidfilm auf eine Leinwand geworfen wird) ließ sich die Rolle von Punkten und Geraden buchstäblich vertauschen, so dass Aussagen über Punkte und Geraden zu Aussagen über Geraden und Punkte wurden. In der
Differentialgeometrie
bedienten sich die Mathematiker der Infinitesimalrechnung, um die lokalen geometrischen Eigenschaften verschiedener mathematischer Räume wie der Oberfläche einer Kugel oder eines Torus zu untersuchen. Diese und andere Geometrien scheinen – wenigstens auf den ersten Blick – eher wie geniale Erfindungen fantasievoller mathematischer Geister denn wie präzise Beschreibungen physikalischer Gegebenheiten. Wie also lässt sich unter diesen Umständen die Vorstellung von einem Mathematiker-Gott verteidigen? Wenn Gott schließlich «unablässig Geometrie treibt» (ein Satz, den der Historiker Plutarch Platon in den Mund gelegt hat), für welche wird er sich dann entschieden haben?
    Die sich rasch vertiefende Einsicht in die Unzulänglichkeiten der klassischen euklidischen Geometrie zwang die Mathematiker, die Grundlagen ihrer Wissenschaft im Allgemeinen und die Beziehung zwischen Mathematik und Logik im Besonderen genauer unter die Lupe zu nehmen. Wir werden in Kapitel 7 auf dieses wichtige Thema zurückkommen. Lassen Sie mich an dieser Stelle nur anmerken, dass das Vertrauen in die selbstverständliche Gültigkeit von Axiomen in Scherben lag. Folglich hat, wiewohl das 19. Jahrhundert eine ganze Reihe anderer wichtiger Entwicklungen in Algebra und Analysis gesehen hat, die Revolution der Geometrie wohl den größten Einfluss auf das Verständnis vom Wesen der Mathematik gehabt.
Von Räumen, Zahlen und Menschen
    Bevor sich die Mathematiker jedoch dem

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