Ist Gott ein Mathematiker
Es war an der Zeit, dass jemand ausholte und der Vorstellung, die euklidische Geometrie sei die eine und einzigmögliche Repräsentation des Raumes, den Garaus machte. Diese Ehre teilten sich drei Mathematiker – einer aus Russland, einer aus Ungarn und einer aus Deutschland.
Seltsame neue Welten
Der Erste, der eine ganze Abhandlung über eine neue Art von Geometrie veröffentlichte – eine, die sich auf einer sattelförmig gekrümmten Oberfläche abspielte (siehe Abbildung 40a) –, war der Russe Nikolai Iwanowitsch Lobatschewski (1792–1856, Abbildung 41). Bei dieser Art von Geometrie (heute als
hyperbolische Geometrie
bezeichnet) wird Euklids fünftes Axiom durch die Aussage ersetzt, dass es zu einer Geraden in einer Ebene und einem Punkt außerhalb dieser Geraden mindestens zwei Geraden gibt, die durch den Punkt verlaufen und parallel zu der gegebenen Graden sind. Ein weiterer wichtiger Unterschied zwischen Lobatschewskis Geometrie und der des Euklid ist der Umstand, dass die Winkelsumme in einem Dreieck bei Letzterem stets 180 Grad beträgt (Abbildung 40b), bei Ersterem hingegen immer kleiner als 180 Grad ist. Da Lobatschewskis Arbeit in dem relativ unbekannten Bulletin der Kasaner Universität erschien, blieb sie so gutwie völlig unbeachtet, bis in den 1830er Jahren schließlich mehrere Übersetzungen davon erschienen. In Unkenntnis der Arbeiten von Lobatschewski hatte ein junger Mathematiker aus Ungarn, János Bolyai (1802–1860), in den 1920er Jahren eine ähnliche Geometrie formuliert. In jugendlichem Überschwang schrieb er 1823 an seinen Vater, den Mathematiker Farkas Bolyai (Abbildung 42): «Ich habe so großartige Sachen herausgebracht, daß ich selbst verblüfft war … jetzt kann ich nur soviel sagen: daß ich aus dem Nichts eine andere, neue, Welt geschaffen habe.» Bereits 1825 konnte János Bolyai dem Älteren die erste Fassung seiner neuen Geometrie aushändigen. Das Werk trug die Überschrift
Scientiam spatii absolute verem exhibens
(«Absolut wahre Raumlehre»). Trotz aller Überschwänglichkeit seitens des jungen Mannes war der Vater von der Stichhaltigkeit der Ideen seines Sohnes nicht ganz überzeugt, beschloss jedoch trotzdem, diese neue Geometrie im Anhang seines eigenen zweibändigen Werks zu den Grundlagen der Geometrie, Algebra und Analysis zu veröffentlichen(dessen einladender Titel lautete:
Tentamen juventutem studiosam in elementa Matheseos purae introducendi –
«Versuch, die studierende Jugend in die Elemente der reinen Mathematik einzuführen»). Ein Exemplar des Buchs wurde im Juni 1831 an Farkas’ Freund Carl Friedrich Gauß (1777–1855, Abbildung 43) übersandt, der nicht nur der berühmteste Mathematiker seiner Zeit war, sondern zusammen mit Archimedes und Newton für viele heute als einer der drei größten aller Zeiten gilt. Das Buch ging in den Wirren einer Cholera-Epidemie verloren, und Farkas musste Gauß ein neues Exemplar schicken. Gauß antwortete am 6. März 1832, und seine Kommentare waren nicht gerade das, was der junge Bolyai erwartet hatte:
Abbildung 40
Abbildung 41
Abbildung 42
Wenn ich damit anfange, «dass ich solche nicht loben darf»: so wirst du wohl einen Augenblick stutzen: aber ich kann nicht anders; sie loben hieße mich selbst loben: denn der ganze Inhalt der Schrift, der Weg, den dein Sohn eingeschlagen hat, und die Resultate, zu denen er geführt ist, kommen fast durchgehends mit meinen eigenen, zumTheile schon 30–35 Jahre angestellten Meditationen überein. In der That bin ich dadurch auf das Äußerste überrascht. Mein Vorsatz war, von meiner eigenen Arbeit, von der bis jetzt wenig zu Papier gebracht war, bei meinen Lebzeiten gar nichts bekannt werden zu lassen.
Abbildung 43
Lassen Sie mich am Rande anmerken, dass Gauß offenbar von der Furcht beseelt war, diese radikal neue Geometrie würde von den Kantianern unter den Philosophen, die er nach dem antiken griechischen Synonym für eine ungebildete, grobschlächtige Person als «Böotier» bezeichnete, als Häresie abgetan. Gauß fuhr fort:
Dagegen war meine Absicht, mit der Zeit Alles so zu Papier zu bringen, dass es wenigstens mit mir dereinst nicht unterginge. Sehr binich also überrascht, dass diese Bemühung mir nun erspart werden kann und höchst erfreulich ist mir, dass es gerade der Sohn meines alten Freundes es ist, der mir auf eine so merkwürdige Art zuvorgekommen ist.
Während sich Farkas von Gauß’ Würdigung, die er als «sehr schön» empfand, recht
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