Ist Gott ein Mathematiker
der reinen Neuheit hinausgeht.
Der große Mathematiker Joseph-Louis Lagrange ging einen Schritt weiter, als er 1797 die Feststellung traf:
… weil die Position eines Punktes im Raum von den drei rechtwinkligen Koordinaten x,
y
und
z
abhängt, werden diese Koordinaten für die Probleme der Mechanik als Funktionen von
t
[Zeit] aufgefasst. Deshalb kann man die Mechanik als eine vierdimensionale Geometrie ansehen und die mechanische Analyse als eine Erweiterung der geometrischen Analyse.
Derlei kühne Überlegungen bereiteten einer Erweiterung der Mathematik den Weg, die zuvor als unvorstellbar gegolten hatte – Geometrien in einer beliebigen Anzahl von Dimensionen – und die komplett die Frage ausklammerten, ob die untersuchten Probleme irgendeine Relation zum physikalischen Raum besaßen.
Kant mag falsch gelegen haben mit seiner Vorstellung, dass unsere Sinne ausschließlich euklidischen Vorgaben gehorchen, aber es ist keine Frage, dass unsere Wahrnehmung nahezu von Natur aus und intuitiv nur in drei Dimensionen arbeitet. Wir können uns relativ problemlos vorstellen, wie unsere dreidimensionale Welt in Platons zweidimensionaler Schattenwelt aussehen würde, aber gedanklich über drei hinaus zu einer höheren Anzahl an Dimensionen vorzustoßen, erfordert wahrhaft die Fantasie eines Mathematikers.
Ein Teil der bahnbrechenden Arbeit zum Umgang mit
n
-dimensionalen Räumen – Geometrie in beliebiger Anzahl von Dimensionen – wurde von Herrmann Günther Graßmann (1809–1877) geleistet. Graßmann, eines von zwölf Kindern und selbst Vater von elf, war ein Schullehrer, der selbst nie irgendeine Art von mathematischer Universitätsbildung genossen hatte. Zu seinen Lebzeiten erfuhr er mehr Anerkennung für sein linguistisches Werk (insbesondere seine Studien zum Sanskrit und zum Gotischen) als für seine mathematischen Leistungen. Einer seiner Biographen schrieb: «Es scheint Graßmanns Schicksal zu sein, von Zeit zu Zeit neu entdeckt zu werden, jedes Mal so, als sei er seit seinem Ableben komplett in Vergessenheit geraten gewesen.» Dennoch war Graßmann verantwortlich für die Etablierung einer abstrakten Wissenschaft der «Räume», innerhalb derer die traditionelle Geometrie nur einen Sonderfall darstellte. Graßmann veröffentlichte seine bahnbrechenden Ideen (die zum Ursprung eines Zweigs der Mathematik werden sollten, der heute
lineare Algebra
genannt wird) 1844 in einem Buch, das gemeinhin unter dem Namen
Ausdehnungslehre
bekannt geworden ist (der eigentliche Titel lautete:
Die Wissenschaft der extensiven Größe oder die Ausdehnungslehre, eine neue mathematische Disziplin. 1. Teil: Die lineare Ausdehnungslehre).
In der Vorrede zu seinem Buch schrieb Graßmann:
Schon lange war es mir nämlich einleuchtend geworden, dass die Geometrie keinesweges in dem Sinne wie die Arithmetik oder die Kombinationslehre als ein Zweig der Mathematik anzusehen sei, vielmehr die Geometrie schon auf ein in der Natur gegebenes (nämlich den Raum) sich beziehe, und dass es daher einen Zweig der Mathematik geben müsse, der in rein abstrakter Weise ähnliche Gesetze aus sich erzeuge, wie sie in der Geometrie an den Raum gebunden erscheinen.
Das war ein radikal neuer Blick auf das Wesen der Mathematik. Für Graßmann behandelt die herkömmliche Geometrie – das Erbe der alten Griechen – den physikalischen Raum und kann daher nicht als echter Zweig der abstrakten Mathematik gelten. Für ihn war die Mathematik ein völlig abstraktes Konstrukt des menschlichen Geistes, der nicht zwangsläufig eine Anwendung in der physikalischen Welt finden muss.
Es ist faszinierend, den scheinbar trivialen Gedankengang nachzuvollziehen, der Graßmann auf den Weg zu seiner Theorie der geometrischen Algebra brachte. Er begann mit der einfachen Formel
AB
+
BC
=
AC
, die in jedem Geometriebuch bei der Behandlung der Länge von Streckensegmenten auftaucht (siehe Abbildung 45a). Hierbei aber fiel Graßmann etwas Interessantes ins Auge, namentlich, dass diese Formel in dem Augenblick unabhängig von der Reihenfolge der Punkte
A
,
B
,
C
gültig wird, in dem man
AB
,
BC
und so weiter nicht nur als Längen interpretiert, sondern ihnen eine «Richtung» zuweist, in dem Sinne, dass
BA
= –
AB
ist. Wenn zum Beispiel
C
zwischen
A
und
B
liegt (wie in Abbildung 45b), dann gilt
AB
=
AC
+
CB
, da aber
CB
= –
BC
gilt, kommen wir zu
AB
=
AC
–
BC,
und die ursprüngliche Formulierung
AB
+
BC
=
AC
ergibt sich zwanglos, indem man auf beiden
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