Ist Gott ein Mathematiker
angetan zeigte, war deren Wirkung auf János verheerend. Nahezu ein Jahrzehnt hindurch weigerte er sich zu glauben, dass Gauß’ Behauptung, er habe in dieser Sache den Vorrang, der Wahrheit entsprach. Und seine Beziehung zu seinem Vater, den er verdächtigte, Gauß seine Ergebnisse vorzeitig mitgeteilt zu haben, wurde dadurch ernsthaft belastet. Als er schließlich einsehen musste, dass Gauß bereits 1799 begonnen hatte, an diesem Problem zu arbeiten, reagierte János mit tiefer Verbitterung, und seine folgenden mathematischen Arbeiten (er hinterließ über zwanzigtausend Manuskriptseiten) gerieten mehr oder minder glanzlos.
Es besteht jedoch wenig Zweifel daran, dass Gauß der nichteuklidischen Geometrie in der Tat ein beträchtliches Maß an Überlegungen gewidmet hat. In einem Tagebucheintrag vom September 1799 schrieb er:
«In principiis geometriae egregios progressus fecimus»
(«Zu den Prinzipien der Geometrie haben wir ausgezeichnete Fortschritte gemacht»). Im Jahr 1813 merkte er an: «In der Theorie der Parallellinien sind wir jetzt noch nicht weiter als Euklid war. Das ist die
partie honteuse
[der beschämende Teil] der Mathematik, die früh oder spät eine andere Gestalt bekommen muß.» Zu ganz ähnlichen Schlussfolgerungen gelangte unabhängig von ihm der Juraprofessor Ferdinand Schweikart (1780–1859), der Gauß irgendwann in den Jahren 1818 oder 1819 über seine Arbeit informierte. Da weder Schweikart noch Gauß ihre Ergebnisse publizierten, wird die Erstpublikation in der Regel Lobatschewski und Bolyai zugeschrieben, obschon man beide kaum als einzige «Schöpfer» der nichteuklidischen Geometrie bezeichnen kann.
Die hyperbolische Geometrie brach wie ein Wirbelsturm über die Welt der Mathematik herein und versetzte der Vorstellung von euklidischer Geometrie als einzig wahrer, unfehlbarer Darstellung von Raum einen ungeheuren Tiefschlag. Vor den Gauß-Lobatschewski-Bolyai’schenArbeiten war die euklidische Geometrie gleichbedeutend mit der natürlichen Welt gewesen. Die Tatsache, dass man eine ganz andere Reihe von Axiomen wählen und darauf eine andere Art von Geometrie gründen konnte, ließ erstmals in der Geschichte den Verdacht aufk ommen, dass die Mathematik vielleicht eine rein menschliche Erfindung sein könnte und nicht die Aufdeckung von Wahrheiten, die unabhängig vom menschlichen Geist existieren. Zur selben Zeit offenbarte der Zusammenbruch der bis dahin unauflöslichen Verknüpfung zwischen euklidischer Geometrie und dem realen physikalischen Raum fatale Defizite an der Vorstellung, die Mathematik sei die Sprache des Universums.
Abbildung 44
Der privilegierte Status der euklidischen Geometrie geriet vom Regen in die Traufe, als einer von Gauß’ Schülern, Bernhard Riemann, zeigte, dass die hyperbolische Geometrie nicht die einzig mögliche nichteuklidische Geometrie darstellte. In einem brillanten Vortrag «Ueber die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen», gehalten am 10. Juni 1854 in Göttingen (Abbildung 44 zeigt das Titelblatt der späteren Veröffentlichung) legte Riemann seine Sicht der Dinge dar: Er begann mit den Worten: «Bekanntlich setzt die Geometrie sowohl den Begriff des Raumes, als die ersten Grundbegriffe für die Constructionen im Raume als etwas Gegebenes voraus. Sie giebt von ihnen nur Nominaldefinitionen, während die wesentlichen Bestimmungen in Form von Axiomen auftreten.» Aber, so weiter: «Das Verhältnis dieser Voraussetzungen bleibt dabei im Dunkeln; man sieht weder ein, ob und in wieweit eine Verbindung nothwendig, noch
a priori,
ob sie möglich ist.» Von den möglichen geometrischen Theorien diskutierte Riemann insbesondere die
elliptische Geometrie,
von der Art, wie man sie auf der Oberfläche einer Kugel antreffen würde (Abbildung 40c). Man beachte, dass bei einer solchen Geometrie die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten keine gerade Linie ist, sondern vielmehr das Segment eines großen Kreisbogens, dessen Zentrum im Mittelpunkt der Kugel liegt. Fluglinien machen sich das zunutze – Flüge von den Vereinigten Staaten nach Europa folgen, wenn man sie auf einer Landkarte betrachtet, keiner geraden Linie, sondern beschreiben eher einen großen Kreis gen Norden. Sie können selbst leicht nachprüfen, dass zwei beliebige große Kreise sich an zwei einander gegenüberliegenden Punkten schneiden. Zwei Erdmeridiane beispielsweise, die am Äquator als Parallelen erscheinen mögen, treffen sich an den beiden Polen. Folglich gibt
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