Ist Gott ein Mathematiker
ursprünglichen, platonischen Vorstellung zurück, die Mathematik sei eine unabhängige Welt von Wahrheiten, deren Existenz so real ist wie die des physikalischen Universums. Die Versuche, die Mathematik mitder Physik zu versöhnen, wurden von diesen «Neoplatonikern» als mühseliges Gestrampel in
angewandter
Mathematik betrachtet, der die
reine,
allem Physikalischen abholde Mathematik gegenüberstand. In einem Brief an den niederländischen Mathematiker Thomas Joannes Stieltjes (1856–1894) erklärte der französische Mathematiker Charles Hermite (1822–1901) am 13. Mai 1894 seine Sicht der Dinge. «Mein lieber Freund», schreibt er,
ich bin hocherfreut, Sie geneigt zu wissen, sich in einen Naturalisten zu verwandeln, um die Phänomene der arithmetischen Welt zu erforschen. Ihre Ansicht ist die meine; ich glaube, dass die Zahlen und die Funktionen der Analysis kein willkürliches Produkt unseres Geistes sind; ich glaube, dass sie außerhalb von uns mit demselben Merkmal der Notwendigkeit existieren wie die Gegenstände der objektiven Realität und dass wir ihnen begegnen oder sie entdecken und sie studieren wie die Physiker, die Chemiker und die Zoologen etc.
Der englische Mathematiker G. H. Hardy, selbst praktizierender Vertreter der reinen Mathematik, war einer der freimütigsten modernen Platoniker. In einer wortgewandten Ansprache vor der British Association for the Advancement of Science am 2. September 1922 verkündete er:
Mathematiker haben eine große Zahl unterschiedlicher geometrischer Systeme konstruiert. Euklidische und nichteuklidische von einer, zwei, drei und jeder beliebigen Zahl von Dimensionen. All diese Systeme sind vollständig und gleichberechtigt gültig. Sie verkörpern Ergebnisse von Beobachtungen der Mathematiker an ihrer Wirklichkeit, einer Wirklichkeit, die sehr viel stärker und unerschütterlicher ist als die dubiose und flüchtige Wirklichkeit der Physik … Die Aufgabe eines Mathematikers besteht somit schlicht darin, Tatsachen über sein eigenes festes und komplexes Wirklichkeitssystem, jenen überraschend wunderbaren Komplex logischer Beziehungen, der Gegenstand seiner Forschungen ist, festzustellen, als wäre er ein Forscher, der eine Bergkette in der Ferne betrachtet und die Ergebnisse seiner Beobachtungen in eine Reihe von Landkarten notiert, von denen eine jede ein Zweig der reinen Mathematik ist.
Es versteht sich von selbst, dass hartgesottene Platoniker selbst angesichts moderner Belege für die arbiträre Natur der Mathematik nicht die Hände in den Schoß gelegt haben. Ganz im Gegenteil fanden sie die Gelegenheit, in «ihre Wirklichkeit» – um es mit Hardys Worten zu sagen – abzutauchen, sehr viel spannender, als irgendwelche Brücken zur physikalischen Realität in Augenschein zu nehmen. Ungeachtet aller Ansichten zur metaphysischen Realität der Mathematik wurde eines aber immer deutlicher. Selbst in Anbetracht der scheinbar ungezügelten Freiheit der Mathematik blieb eine Einschränkung unveränderlich und unerschütterlich bestehen – die Forderung nach logischer Konsistenz. Mathematikern und Philosophen ging deutlicher denn je auf, dass sich die Nabelschnur zwischen Mathematik und Logik nicht würde durchtrennen lassen. Das war die Geburtsstunde einer neuen Idee: Ließ sich die gesamte Mathematik auf ein einzelnes logisches Fundament gründen? Und wenn ja, war das das Geheimnis ihrer Effizienz? Oder andersherum: Ließen sich mathematische Methoden zur Untersuchung des logischen Denkens im Allgemeinen verwenden? In diesem Falle wäre die Mathematik nicht allein die Sprache der Natur, sondern auch des menschlichen Denkens.
Kapitel 7
LOGIKER: NACHDENKEN ÜBER DAS DENKEN
Auf dem Schild eines Dorfbarbiers steht zu lesen: «Rasiere alle Männer im Dorf, die sich nicht selbst rasieren.» Klingt durch und durch vernünftig, oder? Klare Sache, dass Männer, die sich selbst rasieren, die Dienste des Barbiers nicht benötigen, und für den Barbier liegt es auf der Hand, dass er alle anderen rasiert. Aber nun fragen Sie sich einmal, wer denn nun den Barbier rasiert? Wenn er sich selbst rasiert, gehörte er dem Schild zufolge zu denen, die er nicht rasiert. Rasiert er sich hingegen nicht, gehörte er – wiederum dem Schild zufolge – zu denen, die er rasiert! Rasiert er sich also, oder rasiert er sich nicht? Schon weit weniger wichtige Fragen haben zu anderen Zeiten erbitterte Familienfehden ausgelöst. Dieses Paradoxon wurde formuliert von Bertrand Russell
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