Ist Unsere Liebe Noch Zu Retten
differenziert und nicht nur als bedrohlich zu erleben, geschweige denn eine Liebesbeziehung zu wagen. Sie hat den Kontakt zu ihrem Vater abgebrochen. Sie wird ihm nicht verzeihen. Trotzdem versucht sie, ihre Gefühle für ihn zu verändern, und das heißt nicht, dass sie ihn positiv sieht, sondern klaren Auges ohne Angst – denn heute ist sie erwachsen, und er kann ihr nichts mehr tun – und mit all der Entschiedenheit, die Selbstrespekt und Selbstschutz ihr erlauben. Auch ihr wurde vorgeschlagen, das Ganze als wertvolle Lektion zu betrachten und ihm zu danken. Dieser Vorschlag bedeutete für sie eine weitere Verletzung zu all denen, die ihr zugefügt worden waren.
Zu verzeihen, ohne dass es angebracht ist, beruht oft auf falschen Überzeugungen wie:
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Liebevoll sein bedeutet zu erlauben, dass der andere mir Energie raubt oder mich sogar erniedrigt.
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Ich habe kein Recht auf die Unantastbarkeit meines Körpers oder meiner Seele.
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Mein Überleben ist von dem Wohlwollen des andern abhängig.
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Ich bin der Aggression durch meinen Partner hilflos ausgeliefert.
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Ich muss den andern schonen, seine Vorstellungen akzeptieren, meine Aggression, Verletztheit unterdrücken.
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Beziehung bedeutet Erdulden und Leiden.
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Ich darf den Schmerz nicht spüren, den der andere in mir auslöst.
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Lieben heißt Selbstaufgabe.
All diese Überzeugungen sind ungesund und helfen gar nichts! Wenn du dich in einer dieser Haltungen wiedergefunden hast, setz dich damit intensiv auseinander, sie zu verändern. Keine Beziehung wird besser, weil einer von beiden auf der Grundlage mangelnden Selbstrespekts denkt und handelt. Auf dieser Grundlage zu verzeihen ist gefährlich, weil es dem andern einen Freifahrschein für weitere Verletzungen, Kränkungen, Gemeinheiten oder Ähnliches gibt.
Immer wenn ich daran denke, wie notwendig es ist, wirklich erst dann zu verzeihen, wenn der andere eindeutig gezeigt hat, dass er bereit zur Wiedergutmachung und zur Veränderung ist, denke ich an Sebastian und Susanne. Susanne ist gebildet, klug, geschmackvoll. Sie hat Humor, hat sich in ihrem Wohlstandsleben etwas Einfaches und Natürliches bewahrt. Sie ist eine fürsorgliche Mutter, die ihre Kinder auch loslassen kann. Sie ist eine gute Freundin, Gastgeberin, eine Tochter, die für ihre Eltern da ist, ohne sich im eigenen Leben einzuschränken. Sie ist eine attraktive Frau, die ihren Körper pflegt. Sie kann lachen und weinen. Sie ist beruflich aktiv und kreativ. Und erfolgreich. Sie ist finanziell unabhängig. Sie hat Werte, ohne moralinsauer zu sein. Sie hat Tiefgang, kann allein sein, klammert nicht, kann reden und zuhören. Kann Kritik äußern, schluckt nicht runter. Sie ist eine sinnliche Frau mit sexueller Energie.
Sebastian ist verlogen, gierig mit dem Charme desjenigen, der gefallen will. Er besitzt keinen inneren Halt durch irgendeinen Wert, der außerhalb der Durchsetzung seiner egoistischen Bedürfnisse liegt. Er nimmt sich, was er will. Er ist ohne Empathie für andere Menschen. Er redet nur über sich selbst, hat keine wirklichen Freunde, spricht nur über berufliche Dinge. Ist dort extrem erfolgreich, reich. Haus,
Jacht, Porsche, Oldtimer, Motorrad. Er sucht Kicks, auf welche Weise auch immer.
Die erste Verletzung, die er Susanne zugefügt hatte, war entsetzlich: Er betrog sie in der Hochzeitsnacht. Auch anschließend betrog er sie immer wieder. Ein Jahr lang hatte er eine Affäre mit der Frau eines guten Freundes von Susanne. Er hatte in jeder Stadt, wo er auf Geschäftsreise war, eine Frau, die ihn liebte.
An Susanne bemängelte er, dass sie sexuell so wenig aktiv und interessiert, nicht bereit zu »Schweinereien« sei. Außerdem sagte er, sie sei eigentlich nicht der Typ Frau, auf den er abfahre. Ihre Brüste seien zu klein, ihre Beine zu kurz.
Wieso bleibt diese Frau bei diesem Mann?, fragte ich mich. Sie hatte ihre sexuelle Lust bei ihm verloren, ihre viel raffinierteren sexuellen Phantasien als die seinen hatte sie ins Reich unlebbarer Sehnsüchte verbannt. Sie haderte mit ihrem Körper, fand ihre Oberschenkel zu dick und unförmig und wurde von ihm unablässig in ihrer Selbstablehnung bestätigt. Sie selbst mochte ihre kleinen Brüste nicht, die sich, Mitte vierzig, langsam etwas nach unten neigten.
Hat er sie so kleingemacht, dass sie den Weg von ihm weg nicht mehr findet?, fragte ich mich. Auf jeden Fall war sie trotz der verletzenden Episoden bei ihm geblieben, hatte ihm irgendwie, wortlos, ohne
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