Istanbul: Ein historischer Stadtführer
moderne
Müftülük
ist der zweistöckige Bau zur Linken, als letztes Zeugnis einer aus mehreren Bauteilen bestehenden Anlage. Hier werden Tausende von Bänden aufbewahrt, in denen die Kadis ihre Amtsgeschäfte als Richter, Notare und Verwaltungsbeamte aufzeichneten. Der verschwiegene Park gehört zum benachbarten botanischen Institut der Universität.
Das Scheichülislamat war eine in der islamischen Welt einmalige Institution, die aus dem Amt des Kadis von Istanbul hervorging. Der Scheichülislam war niemand anderer als der oberste Müftü. Als solcher hatten seine Rechtsgutachten (
fetvâs
) größtes Gewicht. Sie behandelten viele Fragen des «Erlaubten und Verbotenen» im Alltag bis zum Verhältnis der Muslime zu den Nichtmuslimen. Hier soll ein Beispiel aus dem großen Gebiet der Sexualethik stehen. Mit diesem Beispiel soll auch die äußere Form dieser Rechtsgutachten erklärt werden.
Der oder die Auskunftsuchende anonymisieren den Fall, indem sie an Stelle der tatsächlichen Personennamen etwa «Zeyd» für einen Mann oder «Hind» für eine Frau ansetzen. Die Antwort des Müfti besteht imGroßteil der Fälle aus einem «Ja» oder «Nein» oder der Angabe der Bestrafung wie im nachstehenden Fall:
Abb. 6: Eingang zum ehemaligen Amtssitz des Scheichülislam neben der Süleymaniye
Die Frage
: Wenn der verheiratete Zeyd die Hind vergewaltigt und sie ihrer Jungfräulichkeit verlustig geht, was muss dann mit Zeyd geschehen?
Die Antwort
: Steinigung
Oft genug dienten
Fetvâs
dazu, bestimmte politische Entscheidungen zu legitimieren. So verkündete Sultan Mehmed V. Reşâd beim Eintritt des Osmanischen Reichs in den Ersten Weltkrieg (1914):
Meine heldenhaften Soldaten: Weicht keinen Atemzug ab von Entschlossenheit, Festigkeit und Opfermut in diesem heiligen Glaubenskrieg, den wir unseren Feinden erklärten, welche auf unsere erhabene Religion und unser heiliges Vaterland abzielen. Werft euch auf die Feinde wie Löwen. Leben und Fortbestand unseres Staates wie die von 300 Millionen Muslimen, die Ich sowohl durch unseren Staat als auch durch ein heiliges
Fetvâ
zum großen
Cihâd
aufgefordert habe, hängt von eurem siegreichen Kämpfen ab. In den Mescids und Freitagsmoscheen, in der
Ka‘ba
Gottes (…) sind die Gebete und Segenswünsche der Herzen von dreihundert Millionen unschuldigen und unterdrückten Gläubigen mit euch.
Unter den zahllosen Alltagsfragen, mit denen sich die osmanischen Müftüs im 16. Jahrhundert beschäftigt haben, gehörte die Erlaubtheit der Genussmittel Kaffee, Tabak und
Boza.
Da das zuletzt genannte Getränk in Istanbul wenige Schritte von der Süleymaniye ausgeschenkt wird, passt seine Behandlung in dieses Kapitel.
Boza: Ein harmloses Vergnügen im Schatten der Süleymaniye
Zu den türkischen Genussmitteln
par excellence
gehörte das schwach alkoholische Hirsebier
Boza.
Sein ambulanter Verkäufer, der
Bozacı
, ist in Istanbul noch heute, vor allem im Winter, Bestandteil des Straßenbilds, auch wenn er in den meisten türkischen Provinzstädten fehlt. Von der armenischen Sängerin Şamran gibt es ein Couplet, in dem sie in die Rolle eines jungen
Boza
-Verkäufers schlüpft. Es beginnt mit folgenden Zeilen:
Aus Hirse mache ich Boza
Auf der Straße geh ich und verkauf’ ich sie,
Wenn ich alles verschleudert habe,
Ruhe ich mich auf meinem Zimmer aus.
Ich habe saure und süße Boza,
Wenn Ihr wollt, auch solche mit Zimt.
Damit ist das Wesentliche schon gesagt: Das Hirsegetränk gibt es in einer breiten Geschmackspalette, Zimt ist eine beliebte Zutat. Im Stadtteil Vefa liegt
der
mit Abstand bekannteste
Boza-Laden
Istanbuls, so berühmt, dass er immer wieder auf den Seiten der Magazine zu finden ist, deren Redakteure ein gut illustrierbares nostalgisches Thema suchen. Die Vorfahren des heutigen Inhabers kamen Mitte des 19. Jahrhunderts (um 1860?) aus Albanien und schlugen sich lange als Straßenverkäufer durch, bis sie 1876 ihr eigenes Lokal eröffnen konnten. Die Nähe zu den Volkstheatern von Direklerarası war bei der Wahl des Standorts kein Nachteil.
Die Herstellung von Bier aus verschiedenen Getreidearten ist Reisenden, die Zentralasien besuchten, schon im Mittelalter aufgefallen. Noch heute sind sich die Wissenschaftler nicht einig, aus welcher Sprache das Wort entlehnt ist. Sogar einen Zusammenhang mit dem deutschen Wort «Bier» hat man vorgeschlagen. Die heutigen
Bozacıs
beziehen Hirse aus Anatolien, die sie in Istanbuler Mühlen verarbeiten lassen. In traditioneller Weise
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