Italienische Märchen
aufrichtete, kam der Neuntöter herabgeflogen und brachte in seinen Klauen einen Zweig voll der schönsten Kirschen, der so groß war, daß er ihn kaum tragen konnte. Er flog auf die Hand der Ursula und gab ihr den Zweig und sprach: »Da hast du vorerst eine kleine Erquickung, bald soll mehr kommen. Jetzt lasse uns vorerst sehen, wie Boden und Wände hier beschaffen sind.« Ursula dankte und aß die süßen Kirschen, und dann besahen sie den ganzen Raum. Der Turm war so geräumig als eine kleine Stube, die Wände aber waren rauhe Steine, und da Ursula daran herumfühlte, fand sie ihn an der einen Seite sehr warm. Da sagte der Vogel: »Ja, ja, ich weiß schon, gleich daneben ist die Schloßküche, und der Feuerherd steht dicht hier an der Wand.« – »Du hast recht,« sagte Ursula, »jetzt erinnere ich mich; aber da fällt mir etwas ein: durch die Küche läuft ja ein fließendes Bächlein gerade unter dem Herd weg. Sollte das nicht auch unter dem Turm weg laufen?« Da legte sie sich an die Erde und horchte und hörte es murmeln und rief voll Freude: »Ach! da ist lebendiges Wasser.« – »Das muß geöffnet werden«, sagte der Vogel, »damit du dich waschen und trinken und auch ein bißchen kochen kannst. Laß mich nur sorgen. Erst wollen wir den Boden fegen, damit du dein Bettlein machen kannst.« Nun pfiff er in der Vogelsprache in die Höhe, und viele Vögel schwebten sanft herab und pickten alle Steinchen und Späne auf, die am Boden lagen, und trugen alles so sorgsam zum Dach hinaus und fegten dann mit ihren Flügeln so rein, daß der Boden wie eine Tenne sauber wurde. Nun flogen sie weg und brachten eine Menge trockenes Moos und Wolle, welche die Schafe an den Dornen hatten hängen lassen, und fuhren so lange damit fort, bis so viel beisammen war, daß Ursula sich ein recht weiches Lager daraus bereiten konnte. Als dies fertig war, kam der Neuntöter wieder und brachte einen großen Maulwurf, den setzte er an die Erde und sprach: »Da habe ich einen Bergknappen gebracht, der soll uns nach dem Brunnen wühlen.« Der Maulwurf scharrte gleich munter drauflos; da er aber bald an das Wasser kam, so hörte er auf und ließ sich wieder hin wegtragen. Ursula räumte mit einem Stein nun die Erde hübsch auf und hatte nun ein schönes Bächlein durch ihren Turm laufen, dessen Rand sie mit Steinen auslegte und dessen Grund sie mit bunten Kieseln belegte, die ihr die Vögel brachten. Von der aufgewühlten Erde machten sie sich einen kleinen Herd und eine Bank. Mit diesen Arbeiten ward es Mittag, die Sonne schien gerade vom Himmel in den Turm herein, und Ursula konnte durch die Wand den Bratenwender in der Küche schnarren hören. Da kam auf einmal der Vogel geschwinde, geschwinde den Turm herabgeflogen und trug ein gebratenes Rebhuhn in seinen Klauen und sprach: »Nimm, liebe Ursula; das hatte sich der Koch beiseite gelegt; ich bin durch den Rauchfang in die Küche und habe es für dich geholt.« Dann brachte er ihr auch Brot, und während sie aß, sprach er: »Denk dir, wie gerecht der Lohn des Himmels ist: die zwei bösen Diener Jerums, welche dich hier herein vermauert, sind von den Ziegelsteinen, die ich von dem Dach losmachte, damit du den Himmel sehen solltest, totgeschlagen worden. Jetzt weiß niemand, daß du hier bist, und ich kann mit niemand reden als mit dir; nun wirst du wohl lange hier bleiben müssen.« – »Wie Gott will«, sagte Ursula, und bat den Vogel, er möge ihr nur recht viele Wolle verschaffen, und eine Spindel, damit sie spinnen könne und ein paar feine Stäbchen, damit sie stricken könne. Das brachte ihr der Vogel alles und brachte ihr täglich zu essen. Da spann sie und strickte und betete und entschlief nachts, nach den Sternen sehend. An einem Morgen, als der Vogel ihr keine Kirschen, aber Weintrauben brachte, fragte ihn Ursula recht ängstlich, was Jerum mache. »O, er ist recht wohlauf«, sagte der Vogel, »die neue Frau Königin ist recht strenge gegen ihn; wenn er heftig will werden, so zeigt sie ihm nur ihren Pantoffel, da wird er stille.« – »So!« sagte Ursula, »möge es zu seinem Besten sein; aber, liebster Vogel, ich bitte dich, kannst du mir nicht recht zarte Flaumfedern schaffen?« – »Soviel du willst«, erwiderte der Neuntöter, »alle Vögel sollen sich die zartesten ausrupfen; sie tun mir jetzt alles zulieb, weil ich ihre Jungen nicht mehr fresse.« Da flog er fort, und bald waren viele Vögel da, die saßen auf Ursulas Schoß und rupften sich die Flaumfedern auf ihre
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