Ivo Andric
über der Tiefe tänzelte.
Durch seine gefährliche Stellung
hatte sich Tschorkan plötzlich von ihnen getrennt und war jetzt wie ein
riesenhaftes Ungeheuer hoch über ihnen. Die ersten Schritte waren vorsichtig
und schwerfällig. Seine plumpen Schuhe glitten jeden Augenblick auf den
eisüberzogenen Platten aus. Es schien ihm, als glitten die Füße unter ihm weg,
als müsse er sich abstoßen und fallen, als fiele er schon. Aber die
ungewöhnliche Stellung und die Nähe einer großen Gefahr gaben ihm neue Kraft
und bisher unbekannte Fähigkeiten. Kämpfend, um sich im Gleichgewicht zu
halten, tänzelte er immer lebhafter und knickte immer mehr in den Hüften und
Knien ein. Statt zu gehen, begann er, selbst wußte er nicht wie, zu tanzen,
leicht, sorglos, als sei er auf einem breiten, grünen Feld und nicht auf einem
schmalen, vereisten Rande. Und plötzlich wurde er leicht und geschickt, wie man
es manchmal im Traum wird. Sein untersetzter und ausgemergelter Körper war
schwerelos. Der betrunkene Tschorkan tanzte und schwebte über dem Abgrund, als
habe er Flügel. Er fühlte, wie aus seinem Körper mit der Musik, nach der er
tanzte, eine frohe Kraft ausströmte, die ihm Sicherheit und Gleichgewicht gab.
Der Tanz trug ihn, wohin ihn der Schritt nie gebracht hätte. Und nicht mehr an
die Gefahr und die Möglichkeit eines Falles denkend, tänzelte er von einem Fuß
auf den anderen und sang mit ausgebreiteten Armen, als begleite er sich selbst
zur Laute: »Tiridam, tiridam, tiridiiidiiidiridiri diridiridam, tiridam hai,
hai, haihai!«
Tschorkan sang und gab sich selbst
den Takt an, nach dem er sicher und tanzend seinen gefährlichen Weg
zurücklegte. Die Beine beugte er in den Knien, und den Kopf neigte er bald nach
links, bald nach rechts. »Tiridam, tiridam ... haihai!«
In dieser außergewöhnlichen und
gefährlichen Stellung, hoch über allen, ist er nicht mehr jener arme Schlucker
Tschorkan aus der Stadt und der Schenke; dies unter ihm ist auch nicht die
glatte und schmale steinerne Einfassung der bekannten Brücke, an der er
tausendmal sein Brot gegessen hatte und, an den süßen Tod in den Wellen
denkend, im Schatten auf der Kapija eingeschlafen war. Nein, das ist jene
ferne, undurchführbare Reise, von der sie ihm jeden Abend in der Schenke mit
grobem Spott und Lachen erzählen und auf die er am Ende nun doch noch gegangen
ist. Dies ist jene strahlende, ersehnte Straße der großen Taten; und dort, an
ihrem fernen Ende, dort ist die kaiserliche Stadt Brussa mit wirklichem
Reichtum und einem rechtmäßigen Erbe, dort ist irgendwo auch die
untergegangene Sonne aus dem Lied und die schöne Paascha mit einem Knaben,
seine Frau mit seinem Sohn.
So überschritt er, verzückt tanzend,
auch jenen hinausragenden Teil der Einfassung, der das Sofa umgibt, und dann
die andere Hälfte der Brücke. Als er am Ende angekommen war, sprang er auf die
Straße und blickte sich verwirrt und, als erwache er, um, erstaunt, daß alles
wieder auf der festen und wohlbekannten Wischegrader Landstraße endete. Die
Gesellschaft, die ihn bis hier mit Ermutigungsrufen und Scherzen begleitet
hatte, empfing ihn sofort. Auch diejenigen, die erschreckt zurückgeblieben
waren, eilten herbei. Sie begannen ihn zu umarmen und ihn auf die Schultern und
den ausgeblichenen Fez zu klopfen. Einstimmig riefen sie alle: »Bravo,
Tschorkan, du Falke!« – »Bravo du Sieger! «
»Rum für Tschorkan!« brüllte Santo
Papo mit dicker Stimme und spanischer Aussprache, denn er glaubte, er sei in
der Schenke, und breitete die Arme aus, als zöge man ihn auseinander.
In diesem allgemeinen Gedränge und
Geschrei schlug jemand vor, man solle nicht auseinandergehen und sich schlafen
legen, sondern weiter trinken, um Tschorkans Heldentat zu feiern.
Die Kinder, welche damals acht oder
neun Jahre alt waren und an diesem Morgen über die vereiste Brücke zu ihrer
entfernten Schule eilten, blieben stehen und betrachteten das ungewöhnliche
Schauspiel. Vor Staunen blieben ihnen die kleinen Münder offen stehen, aus
denen weißer Dampf stieg. Klein und eingehüllt, mit ihren Tafeln und Büchern
unter dem Arm, konnten sie dieses Spiel der erwachsenen Leute nicht verstehen,
aber für ihr ganzes Leben blieb ihnen zugleich mit der Linie ihrer heimatlichen
Brücke auch das Bild des wohlbekannten Tschorkan vor Augen, der, verwandelt und
leicht, kühn und freudig, tanzend, wie durch Zauberkraft getragen, dort
schreitet, wo es verboten ist und wo kein anderer
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