Ivo Andric
bewaffnen und zu überreden, daß er ihn ermorde, und noch dazu, als er in die
Moschee ging, um sein Gebet zu verrichten. In einem fadenscheinigen Gewand,
mit einer Gebetskette in der Hand, verstellte der Derwisch dem Gefolge des
Wesirs den Weg und bat heuchlerisch und unterwürfig um ein Almosen, und als der
Wesir in die Tasche greifen wollte, um ihm etwas zu geben, da stach er zu: Und
so ist Mehmed Pascha als Märtyrer gestorben.«
Die Männer lauschten und blickten,
den Rauch ausblasend, bald auf die steinerne Tafel mit dem Tarich, bald auf das
weiße Plakat mit der schwarzen Einrahmung. Sie lauschten aufmerksam, auch wenn
mancher von ihnen nicht jedes Wort aus der Deutung des Muderis verstand. Aber,
durch den Rauch ihrer Zigaretten in die Ferne jenseits von Tarich und Plakat
blickend, erahnten sie dort irgendwo in der Welt ein anderes Leben, ein Leben
großen Aufstiegs und tiefen Falls, in dem sich die Größe mit der Tragik
vermischte und das irgendwie das Gleichgewicht zu ihrem ruhigen und
gleichmäßigen Dahinleben auf der Kapija hielt.
Aber auch diese Tage gingen vorüber.
Auf der Kapija kehrte die alte Ordnung wieder ein, mit lauten
Alltagsgesprächen, Scherzen und Liedern. Die Unterhaltungen über Anarchisten
hörten auf. Und jenes Plakat über den Tod der den Leuten kaum bekannten und
fremden Kaiserin verblaßte unter dem Einfluß von Sonne, Regen und Staub, bis der
Wind es schließlich abriß und in Fetzen den Fluß und die Ufer hinabtrug.
Noch eine Weile riefen die Kinder
Meister Pero »Luccheni!« nach, ohne selbst zu wissen, was dies bedeutete oder
warum sie es taten, einfach aus dem kindlichen Bedürfnis, schwache und
empfindliche Wesen zu reizen und zu quälen. Sie riefen es und hörten dann damit
auf, weil sie einen anderen Zeitvertreib gefunden hatten. Ein wenig trug dazu
auch Stana vom Mejdan dadurch bei, daß sie zwei der ärgsten Schreier mörderisch
verprügelte.
Nach einigen Monaten erwähnte
niemand mehr den Tod der Kaiserin und die Anarchisten. Dieses Leben um die
Jahrhundertwende, das für immer gebändigt und gezähmt erschien, verbarg unter
seinem breiten und gleichförmigen Lauf alles und hinterließ bei den Menschen
das Gefühl, als beginne ein Jahrhundert ruhiger Arbeit bis in eine ferne und
unabsehbare Zukunft.
Jene unaufhörliche und unaufhaltsame
Geschäftigkeit, zu der die fremde Verwaltung verurteilt schien und mit der sich
unsere Menschen so schwer abfanden, obgleich sie ihr eigentlich ihren Verdienst
wie ihren Wohlstand verdankten, hatte in diesen zwanzig Jahren mancherlei im
äußeren Bild der Stadt, in der Kleidung und den Gewohnheiten ihrer Einwohner
geändert. Es war nur natürlich, daß sie auch vor der alten Brücke mit ihrem
ewig gleichen Gesicht nicht haltmachen würde.
Es war das Jahr 1900 herangekommen,
das Ende jenes glücklichen Jahrhunderts und der Beginn des neuen, das nach der
Meinung und dem Gefühl vieler noch glücklicher werden müßte, als von neuem
Ingenieure erschienen und begannen, die Brücke abzuschreiten. Die Leute waren
an sie schon gewöhnt, und die Kinder wußten, was es bedeutet, wenn diese Männer
in Ledermänteln mit der Außentasche voller bunter Schreibstifte um irgendeinen
Hügel oder ein Gelände herumzustreichen begannen. Da wurde etwas abgerissen,
gebaut, umgegraben oder verändert. Nur konnte sich niemand denken, was sie an
der Brücke arbeiten wollten, die für die ganze Stadt etwas Ewiges und Unveränderliches
bedeutete, wie die Erde, auf der sie lebten, und der Himmel über ihnen. Die
Ingenieure schritten die Brücke ab, maßen und zeichneten an, dann gingen sie
wieder, und die Angelegenheit wurde vergessen. Aber um die Mitte des Sommers,
als das Wasser am niedrigsten stand, kamen plötzlich Unternehmer und Arbeiter
und begannen, in der Nähe der Brücke provisorische Baracken für die
Unterbringung von Werkzeug zu bauen. Erst jetzt verbreitete sich das Gerücht,
daß die Brücke ausgebessert würde, und schon wurden an den Pfeilern Gerüste
errichtet, und auf der Brücke selbst wurden Winden aufgestellt, mit deren Hilfe
sich die Arbeiter auf einem beweglichen Gerüst, wie auf einem schmalen,
hölzernen Balkon, an den Pfeilern herabließen, wieder hochzogen und an den
Stellen hielten, wo Risse waren oder Grasbüschel aus den Fugen hervorwuchsen.
Jeder kleine Riß wurde ausgefüllt,
das Gras ausgerupft und die Vogelnester beseitigt. Als man damit fertig war,
begann die Arbeit an der Ausbesserung der unterspülten
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