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Ivo Andric

Ivo Andric

Titel: Ivo Andric Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Brücke über die Drina
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Leben auch nur dem kleinsten Tier ein Härchen gekrümmt,
wieviel weniger aber jemanden ermordet habe, und noch dazu eine Frau und so
hohe Persönlichkeit. Schließlich ward seine Angst zu einer wahren Manie. Die
Städter begannen über Meister Peros Sorge und Eifer und seine überflüssigen
Versicherungen, daß er nichts mit Mördern und Anarchisten zu tun habe, zu
lächeln. Die Stadtkinder aber erfanden sofort ein grausames Spiel. Versteckt
hinter irgendeinem Zaun, riefen sie Meister Pero: »Luccheni!« Der Arme
verteidigte sich gegen diese Zurufe wie gegen unsichtbare Wespen, drückte den
Hut in die Augen und floh nach Hause, um seinen Kummer im weiten Schoß seiner
Frau auszuweinen.
    »Ick ssämen mick, ick ssämen mick«,
schluchzte der kleine Mann, »ick kann keinem in die Augen ssauen.«
    »Geh doch, Närrchen, warum schämst
du dich? Weil ein Italiener die Kaiserin ermordet hat? Mag sich der
italienische König schämen! Aber wer bist du, und was bist du, daß du dich
schämst?«
    »Ick ssämen mick, ssämen mick zu
Tode«, klagte Meister Pero der Frau, die ihn aufrüttelte und sich bemühte, ihm
Kraft und Entschlossenheit einzuflößen und ihn zu lehren, wie er mit frei
erhobenem Haupt und ohne vor irgend jemand den Blick zu senken durch die Stadt
gehen solle.
    Zu dieser Zeit saßen auf der Kapija
die älteren Leute und hörten unbeweglichen Gesichtes und gesenkten Blickes die
Zeitungsberichte mit Einzelheiten über die Ermordung der österreichischen
Kaiserin. Diese Nachrichten waren nur der Anlaß für allgemeine Gespräche über
die Geschicke der gekrönten Häupter und großen Menschen. Einem Kreise
angesehener, neugieriger und nicht belesener Mohammedaner aus der Stadt erläuterte
der Wischegrader Muderis, Hussein Effendi, was und wer Anarchisten seien.
    Der Muderis war noch genauso
feierlich und steif, sauber und gepflegt wie damals vor zwanzig Jahren, als er
auf dieser gleichen Kapija die ersten Schwaben empfing, zusammen mit Mullah
Ibrahim und Pope Nikola, die schon seit langem, ein jeder auf seinem Friedhof,
ruhten. Sein Bart war bereits grau, aber noch ebenso sorgfältig gestutzt und
gerundet; das ganze Gesicht war glatt und ruhig, denn Menschen mit steifem
Geist und hartem Herzen altern langsam. Die hohe Meinung, die er immer von
sich selbst hegte, war in diesen zwanzig Jahren noch gewachsen. Übrigens, jene
Kiste voller Bücher, auf der zu einem guten Teil der Ruf des Muderis als eines
gelehrten Mannes beruhte, war noch immer unerschöpft und unausgelesen, seine
Chronik unserer Stadt aber war in diesen zwanzig Jahren um ganze vier weitere
Seiten gewachsen, denn, je älter der Muderis wurde, um so höher schätzte er
sich selbst und seine Chronik ein und um so geringer alle Ereignisse um sich
herum. Er sprach jetzt mit einer leisen Stimme und langsam, als läse er eine undeutliche
Handschrift, aber würdig, feierlich und streng. Das Schicksal der ungläubigen
Kaiserin nahm er nur als Anlaß und vermischte es in keiner Weise mit dem wahren
Sinn seiner Deutung. Nach seiner Deutung – und auch sie ist nicht seine
eigene, denn er hat sie in den guten, alten Büchern gefunden, die er von seinem
einstigen Lehrer, dem arabischen Hodscha, geerbt – hat es das, was man
heutigentags Anarchisten nennt, schon seit jeher gegeben und wird es auch geben
bis an das Ende aller Zeiten. So sei nun einmal das menschliche Leben
eingerichtet – und Gott, der Einzige, habe es so gewollt –, daß auf jedes Lot
des Guten zwei Lot des Bösen gingen, daß es hier auf Erden keine Güte ohne Haß
und keine Größe ohne Neid geben könne, wie es auch nicht den kleinsten
Gegenstand ohne Schatten gäbe. Dieses gelte besonders für außergewöhnlich
große, fromme und berühmte Menschen. Neben einem jeden von ihnen wüchse mit
ihrem Ruhm auch ihr Henker und lauere auf eine Gelegenheit; manchmal finde er
sie früher, manchmal später.
    »Sehet, hier unser Landsmann Mehmed
Pascha, der schon seit langem ein Bewohner des Himmels ist«, sagte der Muderis
und zeigte auf die steinerne Platte über dem Plakat, »der drei Sultanen diente
und weiser war denn Salomon, der auch diesen Stein, auf welchem wir sitzen,
durch seine Kraft und seine Frömmigkeit aufrichtete, auch er ist unter diesem
Messer gefallen. Trotz seiner Gewalt und Weisheit konnte er dieser Minute nicht
entkommen. Diejenigen, welchen der Wesir in ihren Plänen im Wege stand, und das
war eine große und starke Partei, fanden das Mittel, einen irrsinnigen Derwisch
zu

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