Ivo Andric
Augen der meisten Menschen anders aussiehst, auch wenn du anders von dir
denkst. Aber ich kenne dich.«
Hier verstummte Glasintschanin plötzlich.
Auf der Kapija spürte man bereits
die Frische der Nacht, und die Stille, von einem stärkeren Rauschen des Wassers
begleitet, breitete sich aus. Sie hatten nicht einmal bemerkt, wie die Musik
am Ufer aufhörte. Die beiden jungen Menschen hatten vollkommen vergessen, wo
sie sich befanden und was sie taten, hingerissen jeder von seinen Gedanken,
wie sich nur die Jugend hinreißen läßt. Der eifersüchtige und auch unglückliche
»Holzwurm« sprach das aus, worüber er so viele Male leidenschaftlich, tief und
lebhaft nachgedacht, wofür er aber niemals die entsprechenden Worte und
Ausdrücke hatte finden können; jetzt sagte er es leicht und flüssig, bitter und
schwungvoll. Und Stikowitsch lauschte, unbeweglich und auf die weiße Tafel mit
der Inschrift wie auf eine Filmleinwand blickend. Jedes Wort traf ihn, jede
Schärfe fühlte er, aber in dem, was ihm dieser unsichtbare Kamerad neben ihm
sagte, fand er keine Beleidigung und sah auch keine Gefahr mehr. Im Gegenteil,
es schien ihm, als wüchse er mit jedem Wort Glasintschanins und als flöge er
auf unsichtbaren Flügeln unhörbar und schnell, kühn und erregend, als flöge er
hoch über allen Menschen auf der Erde und über ihren Bindungen, Gesetzen und
Gefühlen, einsam, stolz und groß, glücklich oder in einem dem Glück ähnlichen
Zustand. Er flog über allen. Und diese Stimme und die Worte des Gegners, das
war wie das Murmeln der Wasser und das Geräusch der unsichtbaren, niederen
Welt, irgendwo tief unter ihm, von der es ihm gleichgültig, was sie ist und wie
sie ist, was sie denkt und was sie spricht, denn er überfliegt sie wie ein
Vogel die Landschaft.
Der Augenblick, in dem
Glasintschanin verstummte, ernüchterte sie beide gleichsam. Sie wagten es
nicht, einander anzusehen. Wer weiß, in welcher Richtung der Streit weitergegangen
wäre, hätten sich nicht auf der Brücke, vom Markt kommend, ein paar Betrunkene
mit endlosem Gesang und lauten Zurufen gezeigt. Sie alle überschrie ein Tenor,
der unaufhörlich und zu hoch das alte Lied sang:
Klug bist du, schön bist du,
Awdagas schöne Fata!
Schon an dieser Stimme erkannten sie ein
paar jüngere Kaufleute und Besitzersöhne. Die einen gingen aufrecht und langsam,
die anderen schwankten und torkelten. Aus den lauten Scherzen konnte man
entnehmen, daß sie »Unter den Pappeln« gewesen waren.
Im Laufe der bisherigen Erzählung
haben wir noch eine Neuheit in der Stadt vergessen. (Gewiß haben auch Sie
bemerkt, wie leicht man das zu sagen vergißt, worüber man nicht gern spricht.)
Vor mehr als fünfzehn Jahren, noch
ehe der Bahnbau begann, ließ sich ein Ungar mit seiner Frau in der Stadt
nieder. Er nannte sich Terdik, und seine Frau hieß Julka. Sie sprach Serbisch,
denn sie stammte aus Novi Sad. Sofort erfuhr man, daß sie mit der Absicht
gekommen seien, in der Stadt ein Geschäft zu eröffnen, für das es im Volke
keinen Namen gab. Und sie eröffneten es dort am Ende der Stadt, unter den
hohen Pappeln, die am Fuße des Strachischte standen, im alten Hause eines Beg,
das sie völlig umbauten.
Das war der schamvolle Ort der
Stadt. In diesem Hause waren den ganzen Tag die Fenster verhängt. Mit der
Dunkelheit aber wurde über dem Eingang eine weiße Karbidlampe angezündet, die
die ganze Nacht brannte. Aus dem Erdgeschoß erschallten Lieder und die Töne
eines automatischen Klaviers. Unter den jungen Burschen und Lebemännern nannte
man die Namen der Mädchen, die Terdik mitgebracht hatte und in seinem Geschäft
hielt. Anfangs waren es vier: Irma, Ilona, Frieda und Aranka.
An jedem Freitag konnte man »Julkas
Mädchen« sehen, wie sie in zwei Fiakern zur wöchentlichen Untersuchung ins Krankenhaus
fuhren. Sie waren weiß und rot geschminkt, trugen Blumen auf den Hüten und
lange Sonnenschirme, an denen Spitzenvolants flatterten. Vor diesen Fiakern
verbargen die Wischegrader Mütter ihre Töchter und wandten den Kopf mit Gefühlen
ab, in denen sich Ekel, Scham und Mitgefühl mischten.
Als die Arbeiten an der Bahn
begannen und ein Zustrom von Geld und Arbeitern einsetzte, wurde die Zahl der
Mädchen erhöht. Neben dem alten, türkischen Hause baute Terdik ein neues,
modernes, mit einem roten Ziegeldach, das man weithin sah. Hier gab es drei
Abteilungen. Einen allgemeinen Raum, ein Extrazimmer und einen Offizierssalon.
In jedem der drei Räume waren
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