Ivo Andric
es nicht. Du brauchst nur
die verschiedenen Geschichtsepochen zu vergleichen, den sogenannten
Fortschritt und den Sinn des menschlichen Kampfes, um damit auch die < Theorien > zu erkennen, die dem Kampf die Richtung weisen.«
Glasintschanin meinte sofort, daß
das eine Anspielung auf seine abgebrochene Schulbildung sei, und wie immer in
solchem Falle, erzitterte er innerlich.
»Ich
studiere nicht Geschichte«, begann er.
»Siehst du, wenn du sie studiertest,
dann würdest du erkennen...«
»Aber du
studierst sie ja auch nicht.«
»Wie? Das
heißt ... ja, natürlich studiere ich sie.«
»Neben den
Naturwissenschaften?«
Die Stimme zitterte boshaft.
Stikowitsch war einen Augenblick verwirrt, und dann sagte er mit toter Stimme:
»Na ja, wenn du es durchaus wissen
willst, neben den Naturwissenschaften befasse ich mich auch mit politischen,
historischen und sozialen Fragen.«
»Gut, wenn du es schaffst. Denn,
soviel ich weiß, bist du daneben auch Redner, Agitator, Dichter und –
Liebhaber.«
Stikowitsch lachte unwillkürlich.
Wie etwas Fernes, aber Quälendes fuhr ihm der heutige Nachmittag im
verlassenen Schulzimmer durch den Sinn, und erst jetzt erinnerte er sich, daß
Glasintschanin und Zorka sich bis zu seinem Eintreffen in der Stadt gern
gesehen hatten. Wer selbst nicht liebt, ist auch nicht fähig, die Größe fremder
Liebe noch die Kraft der Eifersucht oder die Gefahr, die sich in ihr verbirgt,
zu empfinden.
Das Gespräch der beiden jungen
Menschen verwandelte sich ohne Übergang in den persönlichen Streit, der von
Anfang an zwischen ihnen in der Luft gelegen hatte. Aber junge Menschen fliehen
den Streit nicht, wie auch junge Tiere gern untereinander wütende und rauhe
Spiele aufführen.
»Was ich bin und womit ich mich
befasse, das geht letzten Endes niemand etwas an. Ich frage dich ja auch nicht
nach deinen Kubikmetern und Baumstämmen.«
Jener Krampf, der Glasintschanin
immer bei der Erwähnung seiner Stellung befiel, schmerzte ihn besonders tief.
»Laß du meine Kubikmeter. Ich lebe
davon, aber ich hochstapele nicht damit, ich täusche und verführe niemanden.«
»Wen verführe ich denn?« verriet
sich Stikowitsch.
»Jeden oder jede, die sich
verführen läßt.«
»Das stimmt nicht!«
»Das stimmt. Du weißt selbst, daß es
stimmt. Und da du mich nun einmal zum Reden gebracht hast, so will ich es dir
sagen.«
»Ich bin nicht neugierig.«
»Aber ich will es dir sagen, denn,
auch wenn man den ganzen Tag über Baumstämme steigt, kann man doch manches
sehen und lernen und etwas denken und empfinden. Ich will dir sagen, was ich
von deinen zahlreichen Berufen und Fähigkeiten, von deinen kühnen Theorien und
auch von deinen Versen und deinen Liebschaften halte.«
Stikowitsch machte eine Bewegung,
als wolle er aufstehen, aber er blieb auf der Stelle. Klavier und Geige aus dem
Kasino hatten schon seit langem das Spiel – den dritten, fröhlichen und
lebhaften Teil der Sonatine – wieder aufgenommen, und ihre Musik verlor sich in
der Nacht im Rauschen des Flusses.
»Danke, das habe ich von anderen
gehört, die klüger sind als du.«
»Nein, nein, entweder kennen dich
die anderen nicht oder sie lügen dir etwas vor oder denken wie ich, aber
schweigen. Alle deine Theorien, alle deine geistigen Beschäftigungen, auch
deine Liebesgeschichten und deine Freundschaften, alles das entspringt deinem
Ehrgeiz, dein Ehrgeiz aber ist verlogen und ungesund, denn er entspringt deiner
Eitelkeit, einzig und allein deiner Eitelkeit.«
»Ha, ha!«
»Ja. Auch diese nationalen Ideen,
die du jetzt so feurig predigst, auch sie sind nur eine besondere Form deiner
Eitelkeit. Denn du bist unfähig, weder deine Mutter noch deine Schwester noch
deinen eigenen Bruder zu lieben, geschweige denn eine Idee. Nur aus Eitelkeit
könntest du gut, freigebig und aufopfernd sein. Denn deine Eitelkeit ist die
Hauptkraft, die dich treibt, dein einziges Heiligtum, das einzige, was du mehr
liebst als dich selbst. Wer dich nicht kennt, der könnte sich leicht täuschen,
wenn er diesen Eifer und deine Kampflust, deine Hingegebenheit an das
nationale Ideal, an Wissenschaft, Poesie oder sonst ein hohes Ziel sähe, das
über der Persönlichkeit steht. Aber du kannst keiner Sache lange dienen und bei
keiner dauernd bleiben, denn deine Eitelkeit läßt das nicht zu. Und in dem
Augenblick, da diese Eitelkeit nicht in Frage steht, da wird alles etwas
Fremdes und Fernes, für das du keinen Finger krümmen willst noch kannst. Auch
dir selbst
Weitere Kostenlose Bücher