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Ivo Andric

Ivo Andric

Titel: Ivo Andric Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Brücke über die Drina
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verschiedene Preise und verschiedene Gäste. Hier »Unter
den Pappeln«, wie man in der Stadt sagte, konnten jetzt die Söhne und Enkel
jener, die einst in Zarijas Schenke, oder später bei Lottika, getrunken hatten,
ihr ererbtes oder erworbenes Geld lassen. Hier spielten sich gröbste Scherze,
wildeste Schlägereien und Dramen der Leidenschaft, des Trunkes und des Gefühls
ab. Viel persönliches und familiäres Unglück der Stadt hatte hier seinen
Ursprung.
    Mittelpunkt dieser betrunkenen
Gesellschaft, die den ersten Teil der Nacht »Unter den Pappeln« verbracht hatte
und nun gekommen war, um sich auf der Kapija abzukühlen, war ein gewisser
Nikola Petzikosa, ein gutmütiger, blöder junger Bursche, den die Besitzersöhne
betrunken machten, um mit ihm ihre Scherze zu treiben.
    Ehe die Betrunkenen auf die Kapija
kamen, blieben sie an der Einfassung stehen. Man hörte einen betrunkenen und
lauten Disput. Nikola Petzikosa wettete um zwei Liter Wein, er wolle auf der
steinernen Einfassung bis zum Ende der Brücke gehen. Sie schlossen die Wette,
der junge Bursche stieg auf die Einfassung und schritt mit ausgebreiteten
Armen, vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend, wie ein Nachtwandler
dahin. Als er bis zur Kapija gekommen war, erblickte er die beiden späten
Gäste, aber er sprach sie nicht an, sondern, etwas vor sich hinsingend, torkelte
er betrunken seinen gefährlichen Weg zu Ende, während die ausgelassene
Gesellschaft ihm folgte. Sein ungeheurer Schatten tanzte im schwachen
Mondlicht auf der Brükke und brach sich an der Einfassung der
gegenüberliegenden Seite.
    Auch die Betrunkenen mit ihrem
unbändigen Geschrei und ihren sinnlosen Bemerkungen zogen vorüber. Die beiden
jungen Menschen erhoben sich nun und gingen ohne Gruß, ein jeder für sich,
nach Hause.
    Glasintschanin verschwand in der
Dunkelheit auf dem Weg zum linken Drinaufer, der ihn zu seinem Hause oben auf
dem Okolischte führte. Stikowitsch machte sich langsamen Schrittes nach der
entgegengesetzten Seite, zum Markt, auf den Weg. Er ging langsam und
unentschlossen. Er mochte den Ort nicht verlassen, an dem es heller und frischer
war als in der Stadt. An der Brückeneinfassung blieb er stehen, denn er fühlte
das Bedürfnis, sich an irgend etwas festzuhalten, an etwas anzulehnen.
    Der Mond stand über der Widowa Gora.
An die steinerne Einfassung unmittelbar am Ende der Brücke gelehnt,
betrachtete der junge Mensch lange die großen Schatten und wenigen Lichter
seiner Heimatstadt, als sähe er sie jetzt zum erstenmal. Im Kasino waren nur
noch zwei Fenster erleuchtet. Die Musik war verstummt. Dort führte vielleicht
jenes unglückliche Paar, der Arzt und die Frau des Obersten, seine Gespräche
über Musik und Liebe oder über ihr persönliches Schicksal, mit dem sich beide
weder abfinden noch untereinander einig werden konnten.
    Von der Stelle, auf der Stikowitsch
jetzt stand, sah man, daß auch in Lottikas Hotel noch ein Fenster erleuchtet
war. Der junge Mensch betrachtete diese erleuchteten Fenster zu beiden Seiten
der Brücke, als erwarte er von ihnen etwas. Er war erschöpft und traurig. Der
halsbrecherische Spaziergang dieses verrückten Petzikosa erinnerte ihn
plötzlich an seine früheste Kindheit, als er auf dem Schulweg im Nebel eines
Wintermorgens den untersetzten Tschorkan gesehen hatte, wie er auf dieser
gleichen Einfassung tanzte. Aber jede Erinnerung an die Kindheit erweckte in
ihm Trauer und Unbehagen. Jenes Gefühl der unseligen, aber schwärmerischen
Größe und des Weltenfluges über allem und jedem, das Glasintschanins feurige
und harte Worte in ihm hervorgerufen, hatte sich jetzt verloren. Es schien ihm,
als sei er steil heruntergekommen und krieche jetzt mühevoll auf der dunklen
Erde wie alle übrigen. Es quälte ihn auch die Erinnerung an alles, was mit der
Lehrerin gewesen und was nicht hätte sein sollen – gerade als habe das ein
anderer in seinem Namen getan! – an den Artikel in der Zeitschrift, der ihm
schwach und voller Mängel erschien – gerade als habe ihn ein anderer für ihn
geschrieben und gegen seinen Willen, aber unter seinem Namen, veröffentlicht!
–, an die lange Rede Glasintschanins, die ihm jetzt plötzlich voller Bosheit
und Haß, voller schwerster Beleidigungen und wirklicher Gefahren erschien.
    Er zitterte vor innerem Erschauern
und der Frische, die vom Fluß kam. Als er gerade wachgeworden, bemerkte er erst
jetzt, daß beide Fenster im Kasino dunkel geworden waren. Aus dem Gebäude
traten die

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