Ivo Andric
hinderte, sich als völlig gleichberechtigt mit den deutschen und
ungarischen Offizieren aus angesehenen oder reicheren Familien anzusehen. Sie
war eine Frau in den Vierzigern, acht Jahre älter als er, groß und blond, schon
ein wenig verblüht, aber mit vollendet weißer und rosiger Haut, großen,
glänzenden, blauen Augen glich sie in Aussehen und Haltung jenen Bildern von
Königinnen, von denen die jungen Mädchen schwärmen.
Jeder dieser beiden Menschen hatte
seine persönlichen, wirklichen oder eingebildeten, gewiß aber ernsten Gründe,
mit dem Leben unzufrieden zu sein. Außerdem hatten sie auch einen starken
gemeinsamen Grund: beide fühlten sich in dieser Stadt und in der Gesellschaft
der Offiziere, größtenteils hohlköpfigen und nichtssagenden Menschen, wie
Unglückliche und Verbannte. Darum klammerten sich die beiden krampfhaft, wie
zwei Schiffbrüchige, aneinander. Sie verschmolzen miteinander, verloren sich
und fanden Vergessen in langen Gesprächen oder, wie jetzt, in der Musik.
Das ist die Geschichte jenes
unsichtbaren Paares, dessen Musik die quälende Stille zwischen den beiden
jungen Menschen ausfüllte.
Die Musik, die sich in die stille
Nacht ergossen hatte, verwirrte sich wieder und verstummte für eine Weile. In
der Stille, die eingetreten war, sprach Glasintschanin mit hölzerner Stimme,
an Stikowitschs letzte Worte anknüpfend:
»Lächerlich? Lächerlich ist so
manches in dieser Diskussion, wenn wir ehrlich sein wollen.«
Stikowitsch nahm hastig die
Zigarette aus dem Mund, und Glasintschanin fuhr langsam, aber entschlossen
fort, seine Gedanken darzulegen, von denen man spürte, daß sie nicht von
diesem Abend stammten, sondern ihn schon lange quälten.
»Ich hörte mir alle diese
Diskussionen genau an, auch euch beide und andere Hochschüler in der Stadt; ich
lese auch Zeitungen und Zeitschriften. Und je mehr ich euch anhöre, desto mehr
überzeuge ich mich davon, daß die Mehrzahl dieser mündlichen oder schriftlichen
Diskussionen mit dem Leben und seinen wirklichen Forderungen und Problemen
nichts zu tun hat. Denn das Leben, das betrachte ich aus allernächster Nähe,
ich sehe es bei den anderen, und ich spüre es am eigenen Leibe. Mag sein, daß
ich mich täusche und daß ich mich nicht gut ausdrücken kann, aber es drängt
sich mir oft der Gedanke auf, daß der technische Fortschritt und der relative Friede
in der Welt eine Art Windstille geschaffen haben, eine besondere, künstliche und
unwirkliche Atmosphäre, in der eine Klasse von Menschen, die sogenannten
Intellektuellen, sich frei dem müßigen und unterhaltsamen Spiel mit Ideen und
Lebens- und Weltanschauungen hingeben können. Eine Art geistigen Treibhauses,
mit künstlichem Klima und einer exotischen Flora, aber ohne jegliche Verbindung
mit der Erde, mit dem wirklichen und harten Boden, auf dem sich die Massen der
Menschen bewegen. Ihr glaubt, über das Schicksal dieser Massen und ihren
Einsatz im Kampf um die Erringung höherer Ziele, die ihr ihnen stellt, zu
entscheiden, in Wirklichkeit aber haben die Räder, die sich in euren Köpfen
drehen, weder Verbindung mit dem Leben der Masse noch mit dem Leben überhaupt.
Hier wird euer Spiel sowohl für die anderen als auch für euch selbst gefährlich
oder kann es wenigstens werden. «
Glasintschanin hielt inne.
Stikowitsch war von dieser langen und durchdachten Ausführung so überrascht,
daß er nicht einmal daran dachte, ihn zu unterbrechen und ihm zu antworten.
Erst als er das Wort »gefährlich« hörte, machte er eine ironische
Handbewegung. Das reizte Glasintschanin, der lebhafter fortfuhr.
»Jawohl, wenn man euch anhört, dann
könnte man meinen, es seien alle Fragen glücklich gelöst, alle Gefahren für
immer abgewendet, alle Wege geebnet und offen, und man brauchte sie nur zu
beschreiten. In Wirklichkeit aber, im Leben ist weder etwas gelöst noch ist es
leicht lösbar noch besteht Aussicht auf eine völlige Lösung, sondern alles ist
schwer und kompliziert, muß teuer bezahlt werden und ist mit unverhältnismäßig
hohem Risiko verbunden; nirgendwo ist auch nur eine Spur von Heraks kühnen
Hoffnungen oder deinen großartigen Perspektiven. Der Mensch quält sich ewig
und hat nie auch nur das, was er braucht, geschweige denn, was er wünscht. Aber
mit Theorien wie den eurigen befriedigt man nur das ewige Spielbedürfnis des
Menschen, schmeichelt man seiner Eitelkeit, täuscht man nur sich selbst und
andere. Das ist Wahrheit, so wenigstens scheint es mir.«
»So ist
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