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Ivo Andric

Ivo Andric

Titel: Ivo Andric Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Brücke über die Drina
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letzten Gäste. über den dunklen Markt klapperten ihre langen Säbel
und schallte ihre laute, gekünstelte Unterhaltung. Schwer löste sich der junge
Mensch von der Mauer los, und nach einem Blick auf das erleuchtete Fenster im
Hotel, als letztem Licht der ausgestorbenen Stadt, ging er mit langsamen
Schritten zu seinem ärmlichen Hause oben auf dem Mejdan.

20
    Das einzige Fenster im Hotel, das in
dieser Nacht als letztes Zeichen wachenden Lebens in der Stadt hell geblieben,
war jenes kleine Fenster im ersten Stock, wo sich Lottikas Zimmer befand.
Dort saß Lottika auch heute abend an ihrem überladenen Schreibtisch. Genau wie
einst, vor zwanzig und mehr Jahren, wenn sie in dieses Zimmer kam, um
wenigstens für einen Augenblick vom Gewühl und Gedränge im Hotel Atem zu schöpfen.
Nur daß jetzt unten alles ruhig und finster war.
    Schon gegen zehn Uhr hatte sich
Lottika in ihr Zimmer zurückgezogen, um schlafen zu gehen. Ehe sie sich
niederlegte, ging sie an das Fenster, um noch einmal die Frische des Wassers
einzuatmen, und blickte auf jenen letzten Bogen der Brücke im schwachen
Mondlicht, der der einzige und ewig gleiche Ausblick aus ihrem Fenster war.
Dann erinnerte sie sich irgendeiner alten Rechnung und setzte sich an den Tisch,
um sie zu suchen. Als sie aber einmal begonnen hatte, ihre Rechnungen durchzusehen,
ließ sie sich fortreißen, vergaß die Zeit und ihr Schlafbedürfnis und blieb
länger als zwei Stunden am Tisch sitzen.
    Mitternacht war längst vorüber, aber
Lottika reihte, schlaflos und vertieft, Zahl an Zahl und wendete ein Blatt nach
dem anderen um.
    Lottika war müde. Tagsüber, in
Gesprächen und Geschäften, war sie noch immer lebhaft, beweglich und
gesprächig, aber des Nachts, wenn sie allein blieb, fühlte sie die ganze
Schwere ihrer Jahre und ihre Müdigkeit. Lottika war verfallen. Von ihrer einstigen
Schönheit waren nur noch Spuren sichtbar. Sie war abgemagert, gelb im Gesicht,
das Haar glanzlos und schütter am Scheitel, und ihre Zähne, einst glänzend und
fest wie Stein, hatten sich gelichtet und gelb gefärbt. Der Blick der schwarzen,
noch immer strahlenden Augen war hart und manchmal traurig.
    Lottika war müde, aber nicht mit
jener gesegneten und süßen Müdigkeit nach vieler Arbeit und großem Verdienst,
die sie einst getrieben hatte, in diesem gleichen Zimmer Ruhe und Entspannung
zu suchen. Das Alter war gekommen, und Zeiten waren angebrochen, die für sie
nicht gut waren.
    Sie hätte nicht mit Worten
ausdrücken und auch sich selbst nicht recht erklären können, aber auf Schritt
und Tritt fühlte sie, daß die Zeiten böse geworden waren, wenigstens für den,
der nur seinen Gewinn und seine Familie vor Augen hat. Als sie vor dreißig
Jahren nach Bosnien gekommen war und ihre Arbeit begonnen hatte, da sah das
Leben aus, als sei es aus einem Stück. Alle kümmerten sich um das eine: das
Geschäft und die Familie. Jeder stand an seinem Platze, und für jeden war Raum.
Über allen aber standen eine Ordnung und ein Gesetz, eine feste Ordnung und
ein strenges Gesetz. So war damals Lottika die Welt erschienen. Jetzt aber
hatte sich alles verschoben und seinen Platz gewechselt. Die Menschen
entzweiten sich und sonderten sich ab, und das, wie es ihr erschien, ohne
Ordnung und sichtbaren Sinn. Das Gesetz von Gewinn und Verlust, jenes wunderbare
Gesetz, das immer das menschliche Vorgehen geleitet hatte, schien nicht mehr zu
gelten, denn so viele Dinge werden getan, geredet und geschrieben, deren Sinn
und Ziel sie nicht erkennen und aus denen nur Unheil und Schaden erstehen
können. Das Leben zerriß, zerbröckelte und zerfiel. Überhaupt schien es der
jetzigen Generation mehr auf ihre Lebensauffassungen denn auf das Leben selbst
anzukommen. Das schien irrsinnig und war ihr vollkommen unfaßlich, aber es war
so. Und daher verlor das Leben an Wert und verbrauchte sich völlig in Worten.
Das sah Lottika klar und fühlte es auf Schritt und Tritt.
    Die Geschäfte, die einst vor ihren
Augen wie eine Herde fröh licher Lämmer herumgetanzt waren, lagen jetzt tot
und schwer wie jene großen weißen Grabsteine auf dem jüdischen Friedhof. Schon
zehn Jahre lang ging das Hotel schlecht. Der Wald um die Stadt war abgeholzt,
und die Holzfällerei entfernte sich immer weiter und mit ihnen auch die beste
Hotelkundschaft und der Verdienst. Dieser freche und schamlose Flegel Terdik
hatte sein »Haus« unter den Pappeln eröffnet und viele von Lottikas Gästen zu
sich herübergezogen, denen er leicht und

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