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Ivo Andric

Ivo Andric

Titel: Ivo Andric Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Brücke über die Drina
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unmittelbar bot, was sie in ihrem
Hotel niemals und für kein Geld bekommen konnten. Lottika wütete lange gegen
diese unloyale und schändliche Konkurrenz und meinte, das Ende der Zeiten sei
gekommen, da es weder Gesetz noch Ordnung noch Möglichkeiten zu ehrlichem
Verdienst gäbe. In ihrer Erbitterung hatte sie einmal, noch im Anfang, Terdik
einen »Zuhälter« genannt. Er hatte sie vor Gericht verklagt, und Lottika war
verurteilt worden und hatte eine Geldstrafe wegen Ehrbeleidigung gezahlt. Aber
auch heute nannte sie ihn nicht anders, nur achtete sie ein wenig darauf, zu
wem sie sprach. Das neue Offizierskasino hatte sein Restaurant, seinen Keller
mit guten Getränken und seine eigenen Übernachtungszimmer, in denen die
angesehenen Fremden abstiegen. Gustav, dieser brummige und hinterhältige, aber
geschäftstüchtige Gustav, hatte nach so vielen Jahren ihr Hotel verlassen,
selbst ein Kaffeehaus am Markt an verkehrsreicher Stelle eröffnet und war aus
einem Mitarbeiter zum rücksichtslosen Konkurrenten geworden. Die Gesangvereine
und verschiedenen Lesehallen, die, wie wir gesehen haben, in den letzten
Jahren in der Stadt entstanden waren, hatten ihre eigenen Lokale und zogen
viele Gäste an.
    Es herrschte nicht mehr das einstige
Leben, weder im großen Saal noch erst recht nicht im Extrazimmer. Dort aßen nur
noch vereinzelte unverheiratete Beamte, las man Zeitungen und trank seinen
Kaffee. Jeden Nachmittag kam Alibeg Paschitsch, der schweigsame und ergebene
Freund aus Lottikas Jugend. Er war noch immer gemessen und diskret in Rede und
Bewegung, ordentlich und sorgfältig gekleidet, aber er war völlig ergraut und
schwerfällig geworden. Wegen seiner schweren Zuckerkrankheit, an der er schon
seit Jahren litt, servierte man ihm den Kaffee mit Sacharin. Ruhig rauchte er
und lauschte, nach seiner Gewohnheit schweigend, auf Lottikas Gespräch. Und
wenn seine Zeit gekommen war, erhob er sich genauso ruhig und schweigend und
ging zu seinem Hause in Crntsche. Hier war täglich auch Lottikas Nachbar, der
Herr Pawle Rankowitsch. Schon seit langem trug er keine Volkstracht mehr,
sondern europäische Kleidung, nur den flachen, roten Fez hatte er beibehalten.
Noch immer trug er ein Hemd mit gestärkter Brust, steifem Kragen und runden
Manschetten, auf denen er sich Nummern und vorübergehende Rechnungen
aufschrieb. Schon seit langem war es ihm gelungen, den ersten Platz am
Wischegrader Markt einzunehmen. Seine Stellung war jetzt gefestigt und
gesichert, aber auch er war nicht frei von Sorgen und Schwierigkeiten. Wie alle
älteren und wohlhabenderen Leute, verwirrten auch ihn die neuen Zeiten, der
tosende Ansturm neuer Ideen und die neue Art zu leben, zu denken und sich
auszudrücken. Für ihn war alles das von einem Wort umschlossen: »Politik.« Und
diese »Politik« war das, was ihn verwirrte und ärgerte und ihm auch diese Jahre
verbitterte, die nach so langen Jahren voller Arbeit, Sparsamkeit und Verzicht
Jahre der Ruhe und der Zufriedenheit hätten sein sollen. Denn um keinen Preis
wollte er sich von der Mehrzahl seiner Landsleute absondern oder sich ihnen
entfremden, ebensowenig aber wollte er mit den Behörden in Konflikt geraten,
mit denen er immer in Frieden und wenigstens formell in Übereinstimmung zu
leben wünschte. Und das war schwer, fast unmöglich zu erreichen. Nicht einmal
mit seinen eigenen Söhnen verstand er sich, wie es sich gehörte. Sie waren für
ihn, wie auch die ganze übrige Jugend, einfach unbegreiflich und unberechenbar.
Und mit der Jugend gingen aus innerem Bedürfnis oder aus Schwäche auch viele
ältere Leute. Ihrer Haltung, ihrem Lebenswandel und ihrem ganzen Verhalten nach
erschienen Herrn Pawle diese jungen Leute als Abtrünnige, als dächten sie
nicht daran, daß es sich auch für sie gezieme, in dieser Ordnung der Dinge zu
leben und zu sterben, sondern als wollten sie ihr Leben außerhalb der Gesetze
wie Räuber in den Bergen verbringen. Diese Jugend achtete nicht darauf, was
sie sagte, nicht auf das, was sie tat, zählte nicht, was sie verbrauchte; am
wenigsten befaßte sie sich mit ihren eigenen Angelegenheiten, sie aß das Brot,
ohne zu fragen, woher es käme, und sie redete, redete, redete, »bellt die
Sterne an«, wie sich Herr Pawle in seinen Disputen mit seinen Söhnen
ausdrückte.
    Dies Denken ohne Grenzen, dies
Sprechen ohne Maß und dies Leben ohne Verantwortung und gegen die Vernunft
brachte ihn, der zeit seines Lebens mit Rechnungen und nach der Vernunft gelebt
hatte, zu Wut

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