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Ivo Andric

Ivo Andric

Titel: Ivo Andric Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Brücke über die Drina
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Zeitungen lesen, daß »bei der Säuberung Wiens von
umstürzlerischen, fremden Elementen auch der bekannte jüdische Aufwiegler, Dr.
Albert Apfelmaier, ausgewiesen wurde, nachdem er die ihm zugesprochene Strafe
von zwanzig Tagen Arrest abgesessen hatte«. Das war in der Sprache des
Städtchens das gleiche, als wäre er unter die Räuber gegangen. Nach einigen
Monaten erhielt Lottika von ihrem lieben Albert einen Brief, in dem er sich als
Emigrant aus Buenos Aires meldete.
    In jenen Tagen fand sie auch in
ihrem Zimmerchen keine Ruhe. Mit dem Brief in der Hand ging sie zu Schwester
und Schwager, und, verzweifelt und ganz außer sich, schrie sie ihrer Schwester
Deborah, die nur weinen konnte, zornerfüllt ins Gesicht:
    »Was soll aus uns werden? Ich frage
dich, was soll aus uns werden, wenn es niemand versteht, sich zu erheben und
auf eigenen Füßen zu stehen. Sobald du ihn nicht mehr am Gängelband führst, da
fällt er. Was kann aus uns werden? Verflucht sind wir, das ist es!«
    »Gott, Gott, Gott!« seufzte die arme
Deborah auf deutsch und vergoß dicke Tränen. Auf Lottikas Frage konnte sie
natürlich nichts antworten. Lottika selbst fand keine Antwort, sondern schlug
die Hände zusammen und hob die Augen zum Himmel, aber nicht weinerlich und
eingeschüchtert wie Deborah, sondern wuterfüllt und verzweifelt.
    »Sozialist ist er geworden!
So-zia-list! Ist es denn noch nicht genug, daß wir Juden sind, nein, auch noch
das! Oh, großer, einziger Gott, wo habe ich gefehlt, daß du mich so strafst?
Sozialist!«
    Sie beklagte Albert wie einen
Verstorbenen und sprach nicht mehr von ihm.
    Drei Jahre danach verheiratete sich
eine der Nichten, eine Schwester des gleichen Albert, sehr gut in Budapest.
Lottika kümmerte sich um die Aussteuer des Mädchens und führte das Hauptwort in
der moralischen Krise, die diese Heirat in der zahlreichen Familie der Tarnower
Apfelmaier hervorrief, die nur an Kindern und einer makellos reinen religiösen
Tradition reich waren. Der Mann, den diese Nichte heiraten sollte, war ein
reicher Börsenmakler, aber ein Christ, ein Calvinist, und er stellte als
Bedingung, daß das Mädchen zu seinem Glauben übertrete. Die Eltern widersetzten
sich, aber Lottika, die ständig das Interesse der ganzen Familie vor
Augen hatte, erklärte, es sei schwer, mit soviel Menschen an Bord einen geraden
Kurs zu steuern, und man müsse manchmal zur Rettung aller etwas Ballast über
Bord werfen. Sie stützte das Mädchen. Und ihr Wort war entscheidend. Das
Mädchen ließ sich taufen und heiratete. Lottika hoffte, daß es ihr mit Hilfe
dieses Schwagers gelingen würde, wenigstens noch den einen oder anderen Verwandten,
die herangewachsen waren, in die Budapester Geschäftswelt einzuführen. Aber
das Unglück wollte es, daß der reiche Budapester Börsenmakler schon im ersten
Jahre der Ehe starb. Vor Trauer wurde die junge Frau geistesgestört. Die Monate
vergingen, und ihre große Niedergeschlagenheit wich nicht. Und nun lebte die
junge Witwe schon das vierte Jahr in Budapest, ihrer unnatürlichen Trauer
hingegeben, die wie ein stiller Wahnsinn war. Die große, reich eingerichtete
Wohnung hatte sie mit schwarzem Tuch ausschlagen lassen. Und jeden Tag ging sie
auf den Friedhof, setzte sich an das Grab des Mannes und las ihm leise und
hingegeben die Tageskurse der Börse von Anfang bis Ende vor. Auf alle
Bemühungen, sie davon abzubringen und aus der Lethargie, in die sie verfallen,
herauszureißen, antwortete sie sanft, das habe der Verstorbene über alles
geliebt und das sei ihm die schönste Musik gewesen, die er gekannt habe.
    So hatten sich viele verschiedene
Schicksale in diesem kleinen Zimmer angehäuft. Viele Rechnungen, viele
unsichere Forderungen, viele für immer abgeschriebene und gelöschte Positionen
in Lottikas großer und verzweigter Buchführung. Aber das Geschäftsprinzip war
das gleiche geblieben. Lottika war müde, aber nicht entmutigt. Nach jedem
Verlust und Mißerfolg sammelte sie sich, biß die Zähne zusammen und verteidigte
sich weiter. Denn alle ihre Arbeit in den letzten Jahren war nur Verteidigung,
aber sie wehrte sich mit dem gleichen Ziel vor Augen und mit der gleichen
Hartnäckigkeit, mit der sie einst erworben und aufgebaut hatte. In diesem Hotel
war sie der »männliche Kopf« und für die ganze Stadt »Tante Lottika«. Noch
immer erwarteten, hier wie draußen in der Welt, genug Menschen ihre Hilfe, ihren Rat oder wenigstens ein
gutes Wort, und sie fragten nicht und dachten nicht

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