Ivo Andric
Familie. Die eine der Zahlerschen Töchter, Irene, hatte
sich zwar unerwartet gut verheiratet. (Lottika gab die Aussteuer.) Aber die
ältere Tochter Minna war sitzengeblieben. Verbittert über die Heirat der
jüngeren Schwester und unglücklich in ihren Verlobungen, war sie vor der Zeit
zu einer bissigen und schrulligen alten Jungfer geworden, die das Leben im
Hause und die Arbeit im Hotel schwerer und unerträglicher machte, als sie ohnedies
schon waren. Zahler, der nie lebhaft und beweglich gewesen, war noch
schwerfälliger und unentschlossener geworden und lebte im Hause wie ein stummer
und gutmütiger Gast, der weder Schaden noch Nutzen brachte. Zahlers Frau,
Deborah, hatte trotz ihrer Kränklichkeit in vorgerückten Jahren noch einen
Sohn geboren, der aber unentwickelt und verkrüppelt war. Jetzt war er schon
zehn Jahre alt, aber noch immer konnte er weder richtig sprechen noch auf den
Füßen stehen, sondern drückte sich in unklaren Lauten aus und kroch auf den
Händen im Hause umher. Dieses kümmerliche Geschöpf war aber so gut und
zutulich, und so krampfhaft klammerte es sich an seine Tante Lottika, die es
mehr liebte als seine eigene Mutter, daß Lottika, trotz allen ihren Sorgen und
Geschäften, sich auch um das Kind kümmerte, es fütterte, anzog und schlafen
legte. Wenn sie jeden Tag diese Jammergestalt eines Kindes vor sich sah, dann
tat es ihr in der Seele weh, daß die Geschäfte nicht besser gingen und man
nicht mehr Geld hatte, um es nach Wien zu den großen Ärzten in eine Anstalt zu
schicken, oder daß nicht ein Wunder geschah und die Gelähmten mit Gottes Willen
von den guten Taten und Gebeten der Menschen gesund wurden. Auch jene
Schützlinge Lottikas aus Galizien, die sie während der guten Jahre ausbilden
ließ oder verheiratet hatte, machten ihr genug Sorge und brachten
Enttäuschungen. Es gab unter ihnen auch solche, die ihre Familie gegründet, ein
Geschäft angefangen und Vermögen erworben hatten. Von ihnen bekam Lottika
regelmäßig Glückwünsche, Briefe voller Hochachtung und Dankbarkeit und
regelmäßige Berichte über den Stand der Familie. Aber die Apfelmaier, die
Lottika auf den Weg gebracht, auf Schulen geschickt oder an den Mann gebracht
hatte, unterstützten und nahmen keine neuen armen Angehörigen auf, die in
Galizien geboren wurden und heranwuchsen, sondern kümmerten sich, in fremden
Städten wohnend, nur um sich und ihre eigenen Kinder. Es war, als läge für sie
der größte Teil ihres Erfolges darin, Tarnow und das enge, ärmliche Milieu, aus
dem sie hervorgegangen waren und sich glücklich befreit hatten, möglichst
schnell und möglichst vollständig zu vergessen. Und Lottika selbst konnte nicht
mehr wie einst geben und die armen Angehörigen aus Tarnow auf den rechten Weg
bringen. Aber niemals legte sie sich nieder oder stand auf, ohne daß sie wie
ein Schmerz der Gedanke durchzuckte, daß gerade jetzt einer der Ihren dort in
Tarnow hoffnungslos und für immer in Unwissenheit und Schmutz versinke, in
jener beschämenden Not, die sie so gut kannte und gegen die sie ihr ganzes
Leben lang kämpfte.
Aber auch bei denen, die sie
gefördert hatte, gab es genug Anlaß zu Trauer und Unzufriedenheit. Gerade die
besten unter ihnen stolperten nach den ersten Erfolgen und schönen Hoffnungen
und wurden wankend. Eine Nichte, eine begabte Pianistin, die mit Lottikas Hilfe
und Bemühungen das Wiener Konservatorium besucht hatte, vergiftete sich vor
einigen Jahren, zur Zeit ihrer ersten und schönsten Erfolge, niemand wußte
warum.
Einer der Neffen, Albert, die
Hoffnung der Familie und Lottikas Stolz, hatte seine ganze Ausbildung auf dem
Gymnasium und auf der Universität mit ausgezeichnetem Erfolg abgeschlossen und
nur, weil er Jude war, nicht »sub auspiciis regis« promoviert und den
kaiserlichen Ring erhalten, wie Lottika insgeheim gehofft. Trotzdem hatte ihn
sich Lottika wenigstens als angesehenen Rechtsanwalt in Wien oder Lemberg
vorgestellt, wenn er schon als Jude kein hoher Staatsbeamter werden konnte, was
ihrem Ehrgeiz am besten entsprochen hätte. Und auch darin hätte sie ihren Lohn
für alle ihre Opfer um seine Ausbildung gesehen. Aber hier hatte sie eine
schmerzliche Enttäuschung erleben müssen. Der junge Doktor der
Rechtswissenschaften war unter die Journalisten gegangen und Mitglied der
Sozialistischen Partei geworden, und zwar jenes extremen Flügels, der sich bei
dem Wiener Generalstreik im Jahre 1906 hervortat. Und Lottika mußte mit
eigenen Augen in den Wiener
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