Ivo Andric
österreichischen
Streifen nicht daran hinderten, ihre notwendigen Wege.
Die Gebirgsbatterie vom Panos schoß
nur tagsüber, aber die Haubitzen hinter Golesch meldeten sich auch des Nachts
und versuchten, Truppenverschiebungen und Troßverlegungen von einer Seite der
Brücke zur anderen zu behindern.
Die Städter, deren Häuser im Innern
der Stadt, in der Nähe der Brücke und der Landstraße lagen, zogen mit ihren
Familien auf den Mejdan oder in andere geschützte und entfernte Stadtviertel
zu Verwandten oder Bekannten, um sich vor der Beschießung in Sicherheit zu
bringen. Diese Flucht mit den Kindern und der notwendigsten Habe erinnerte an
jene schweren Nächte, wenn über die Stadt das große Wasser hereinbrach. Nur daß
dieses Mal die Menschen der verschiedenen Glaubensrichtungen nicht vermischt
und durch das Gefühl der Solidarität und eines gemeinsamen Unglücks wie einst
verbunden waren. Die Mohammedaner waren in den mohammedanischen Häusern und
die Serben, wie Pestkranke, nur in den serbischen. Aber trotz dieser Scheidung
und Zersplitterung lebten sie mehr oder we niger das gleiche Leben.
Zusammengedrängt saßen sie in fremden Häusern, ohne zu wissen, was sie mit der
langen Zeit und ihren besorgten und fassungslosen Gedanken beginnen sollten,
müßig und mit leeren Händen, wie Ausgebrannte, in Angst um das Leben,
Ungewißheit über den Besitz und gequält von widersprechenden Hoffnungen und
Wünschen, die sie natürlich, die einen wie die anderen, verbargen.
Wie einst während der großen
Hochwasser, bemühten sich die älteren Leute, bei den einen wie bei den anderen,
alles in ihrer Umgebung mit Scherzen und Erzählungen, durch erzwungene Ruhe und
künstliche Fröhlichkeit aufzuheitern. Aber es schien, als wollten bei dieser
Art Unglück die alten Scherze und Vertuschungsversuche nicht mehr helfen, als
hätten alle einstigen Erzählungen ihre Farbe und alle Scherzworte Geschmack und
Sinn eingebüßt, und neue bilden sich nicht so schnell.
In den Nächten stellten sich alle
schlafend, wenn auch in Wirklichkeit niemand ein Auge schließen konnte. Sie
sprachen flüsternd, obgleich sie selbst nicht wußten, wozu diese Vorsicht, da
doch jeden Augenblick bald die serbischen und bald die österreichischen Geschütze
dröhnten. Die Menschen befiel eine Angst davor, dem Feind Zeichen zu geben,
obgleich niemand wußte, wie man solche Zeichen geben sollte oder was das
eigentlich bedeutete. Aber die Angst war so groß, daß es niemand wagte, auch
nur ein Streichholz anzureißen. Wenn die Männer rauchen wollten, dann sperrten
sie sich in dumpfe Zimmerchen ohne Fenster ein oder sie deckten sich eine
Decke über den Kopf und rauchten darunter. Die Schwüle war drückend und
erstickend. Alle waren in Schweiß gebadet, aber alle Türen waren verriegelt,
alle Fenster geschlossen und verhängt. Die Stadt glich einem Unglücklichen, der
die Augen mit den Händen bedeckt und so die Schläge abwartet, gegen die er sich
nicht wehren kann. Alle Häuser sahen aus, als habe sie der Tod verschlossen.
Denn wer am Leben bleiben wollte, der mußte sich tot stellen, aber nicht einmal
das half immer.
In den mohammedanischen Häusern ging
es etwas lebhafter und freier zu. Hier waren viele alte kriegerische Neigungen,
aber zur Unzeit, erwacht und in diesem Zweikampf, den zwei Artillerien, beides
christliche, über ihren Häuptern ausfochten, in Verwirrung geraten und unsicher
geworden. Aber auch große und verhüllte Sorgen gab es und Unglück ohne Ausweg
und sichtbare Lösung.
In Alihodschas Hause unterhalb der
Festung wimmelte es wie in einer Glaubensschule. Zu seinen vielen Kindern waren
noch die neun Kinder Mujaga Mutapdschitschs gekommen; davon waren nun drei
erwachsen, alle anderen aber klein und unmündig und wie die Orgelpfeifen. Um
sie nicht hüten und jeden Augenblick im Hof rufen zu müssen, hatte man sie,
zusammen mit Alihodschas Kindern, in das kühle und geräumige Erdgeschoß
eingesperrt, und dort plagten sich ihre Mütter und älteren Schwestern in einem
unaufhörlichen und allgemeinen Geschrei und Geheul mit ihnen ab.
Dieser Mujaga Mutapdschitsch,
genannt der Uschitzer, denn er stammte aus Uschitze, war in der Stadt ein
Zugewanderter. (Wir werden gleich erfahren, wie und warum.) Er war ein großer
Mann in den Fünfzigern, völlig grau, mit einer Adlernase und stark zerfurchtem
Gesicht, tiefer Stimme und kurzen, militärischen Bewegungen. Er sah älter aus
als Alihodscha, obgleich er in Wirklichkeit jünger war
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