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Ivo Andric

Ivo Andric

Titel: Ivo Andric Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Brücke über die Drina
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Lasten über den Fluß.
    In ihren Mauern nisteten die Vögel,
in den unsichtbaren Rissen, die die Zeit in den Mauern öffnete, sproßten
kleine Grasbüschel. Der gelbliche, poröse Stein, aus dem die Brücke erbaut
war, festigte und schloß sich unter dem wechselnden Einfluß von Feuchtigkeit
und Hitze; bestürmt von Wind, der in beiden Richtungen durch das Flußtal
wehte, gewaschen vom Regen und getrocknet von der Sonnenglut, nahm der Stein
mit der Zeit die gedämpfte Weiße des Pergaments an und strahlte in der Dunkelheit
wie von innen erleuchtet. Die großen und häufigen Überschwemmungen, die eine
schwere und ständige Not für die Stadt waren, vermochten ihr nichts. Sie kamen
in jedem Jahre, im Frühjahr und im Herbst, aber sie waren nicht immer gleich gefährlich
und schicksalsvoll für die Stadt neben der Brücke. Mindestens einmal in jedem
Jahre schwoll die Drina, trübte sich und führte unter großem Tosen abgerissene
Zäune von den Äckern, losgespülte Baumstümpfe und eine dunkle Schicht von
trockenen Blättern und Gestrüpp aus den Bergwäldern unter den Brückenbögen
hindurch. In der Stadt litten die Höfe, Gärten und Lagerräume der nächsten
Häuser. Und damit hatte es sein Bewenden. Aber in unregelmäßigen Abständen von
einigen zwanzig bis dreißig Jahren kamen große Hochwasser, deren man sich
später erinnerte, so wie man sich an Aufstände und Kriege erinnert und die noch
lange als Datum genommen wurden, nach dem man die Zeit und das Alter von
Bauwerken und die Länge des menschlichen Lebens rechnete (»etwa fünf oder sechs
Jahre vor dem großen Hochwasser«, »als das große Hochwasser war«).
    Nach diesen großen Überschwemmungen
blieb nur wenig an beweglicher Habe in jenem größeren Teil der Stadt, der in
der Ebene, auf der sandigen Landzunge zwischen Drina und Rsaw, liegt. Ein
solches Hochwasser warf die ganze Stadt um einige Jahre zurück. Diese
Generation verbrachte den Rest ihrer Tage mit der Ausbesserung der Schäden und
des Unheils, die das »große Hochwasser« hinterlassen hatte. Bis zu ihrem Lebensende
beschworen sie in ihren Gesprächen die Schrecken der Herbstnacht herauf, da sie
in eisigem Regen und bei höllischem Wind im Lichte spärlicher Laternen Waren
herauszogen, ein jeder aus seinem Laden, und sie auf den Mejdan in fremde Häuser
und Lagerschuppen hinaufschafften. Und als sie dann am nächsten Tage, am trüben
Morgen, vom Hügel auf diese Stadt hinunterblickten, die sie unbewußt und stark
wie ihr eigenes Herzblut liebten, und das trübe hochgehende Wasser betrachteten,
wie es reißend in Höhe der Hausdächer durch die Straßen strömte, dann errieten
sie an diesen Dächern, von denen das Wasser mit Krachen Brett um Brett losriß,
wessen Haus noch stand.
    Bei Feierlichkeiten, zu Weihnachten
oder in den Ramandan-Nächten, pflegten die ergrauten, schwerfälligen und
besorgten Hausväter – die Christen wie die Mohammedaner – aufzutauen und
gesprächig zu werden, sobald die Rede auf das größte und schwerste Ereignis
ihres Lebens, auf »das Hochwasser«, kam. In einem Abstand von fünfzehn bis
zwanzig Jahren, in denen sie von neuem Haus und Gut erworben hatten, erschien
»das Hochwasser« als etwas zugleich Furchtbares und Großes, etwas Teures und
Nahestehendes; es war das innigste Band zwischen den noch lebenden, aber immer
seltener werdenden Menschen dieser Generation; denn nichts bindet die Menschen
so aneinander wie gemeinsam und glücklich überstandenes Unglück. Auch sie
fühlten sich fest verbunden durch die Erinnerung an dieses verflossene Unheil.
Daher liebten sie so sehr die Erinnerungen an den schwersten Schlag, den ihnen
das Leben versetzt hatte, und fanden in ihnen eine Befriedigung, die den
Jüngeren unverständlich blieb. Ihre Erinnerungen waren unerschöpflich, und sie
waren unermüdlich in der Wiederholung dieser Erinnerungen; im Gespräch
ergänzten sie einander und erinnerten sich gegenseitig; sie brauchten nur einer
dem anderen in die alten Augen mit den sklerotischen, vergilbten Augäpfeln zu
sehen, um zu erblicken, was die Jüngeren nicht einmal erahnen konnten; sie
berauschten sich an ihren eigenen Worten, und sie ertränkten ihre heutigen
Alltagssorgen in der Erinnerung an größere, die längst und glücklich vorüber
waren.
    In den warmen Stuben ihrer Häuser
sitzend, über die einst dieses Hochwasser hinweggegangen war, erzählten sie mit
besonderem Genuß zum hundertsten Male einzelne rührende oder tragische Szenen
wieder. Und je

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