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Ivo Andric

Ivo Andric

Titel: Ivo Andric Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Brücke über die Drina
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zusammengetrieben hatte und von allen Seiten umgab.
    Man trank heißen Raki. In den
Erzählungen tauchten sonderbare Gestalten aus alten Zeiten auf, Erinnerungen
an Sonderlinge aus der Stadt und alle möglichen lächerlichen und ungewöhnlichen
Begebenheiten. Pope Mihailo und Hadschi Liatscho gingen voran. Und wenn das
Gespräch unabsichtlich wieder auf frühere »Hochwasser« kam, dann erwähnten sie
nur, was leicht und scherzhaft war oder zumindest nach so vielen Jahren so erschien,
als wollten sie durch diesen Zauber der Überschwemmung trotzen. Man sprach vom
Popen Jowan, der hier einst Pfarrer gewesen und von dem seine Pfarrkinder
sagten, er sei ein guter Mensch, aber er habe »keine glückliche Hand« und sein
Gebet finde vor Gott wenig Gehör.
    Während der sommerlichen
Trockenheit, die oft die ganze Ernte vernichtet, führte Pope Jowan vergeblich
Bittprozessionen durch und verlas Gebete um Regen, aber danach kam gewöhnlich
nur noch größere Trockenheit und Hitze. Als aber nach einer solchen Trockenheit
eines Herbstes die Drina zu steigen begann und eine allgemeine Überschwemmung
drohte, da ging Pope Jowan an das Ufer, versammelte seine Gemeinde und begann
ein Gebet zu verlesen, daß der Regen aufhöre und das Wasser falle. Damals rief
ihm ein gewisser Jokitsch, ein Trinker und Tagedieb, der meinte, daß Gott
gewöhnlich das Gegenteil von dem schickte, um das Pope Jowan betete, mit lauter
Stimme zu:
    »Nicht dieses, Herr Pfarrer, sondern
das vom Sommer, um Regen, das hilft bestimmt, daß das Wasser verschwindet.«
    Der dicke und ernsthafte Ismet
Effendi erzählte wiederum von seinen Vorgängern und ihrem Kampf mit dem
Hochwasser. So gingen bei einem lang zurückliegenden Hochwasser einmal zwei
Wischegrader Hodschas hinaus, um ihr Gebet, die Dova, gegen diese Gefahr zu
sprechen. Der eine Hodscha hatte sein Haus im unteren Teil der Stadt, dem die
Überschwemmung drohte, der andere aber auf dem Berge, wohin das Hochwasser
nicht kommen konnte. Zuerst sprach der Hodscha vom Berge seine Gebete, aber
das Wasser wollte und wollte nicht fallen. Da rief ein einheimischer Zigeuner,
dessen Haus schon im Wasser zu versinken begann:
    »Aber Leute, nehmt doch den Hodscha
vom Markte, dessen Haus unter Wasser steht wie auch die unsrigen. Seht ihr denn
nicht, daß der vom Berge nur mit halbem Herzen betet?«
    Hadschi Liatscho, rot und
freundlich, mit üppigen weißen Lokken, die unter seinem ungewöhnlich flachen
Fez hervorquollen, lachte über all dies und rief dem Popen und dem Hodscha zu:
    »Sprecht mir nicht soviel von
Gebeten gegen das Hochwasser, sonst könnte es unseren Leuten einfallen, uns
alle drei hinauszujagen, damit wir bei diesem Sturzregen Gebete lesen und das
Wasser beschwören.«
    Und so reihten sich die Gespräche
aneinander, die, an sich bedeutungslos und anderen unverständlich, nur für sie
und ihre Generation eine Bedeutung haben konnten; alles irgendwelche harmlose,
aber ihnen bekannte und nahestehende Erinnerungen eines gleichen, schönen und
schweren Lebens in der Stadt, ihres Lebens; aber all dieses weit Zurückliegende
und längst Veränderte stand in engster Verbindung zu ihnen und war dennoch fern
jenem nächtlichen Drama, das sie zu diesem phantastischen Kreis zusammenfügte.
    So überwanden die angesehenen
Männer, gefestigt und seit ihrer Kindheit an Unglücksfälle aller Art gewöhnt,
die Nacht des »großen Hochwassers«, fanden in sich selbst die Kraft zu
äußerlichen Scherzen angesichts des Unheils, das hereingebrochen war, und
setzten sich so über die Not hinweg, der sie nicht entrinnen konnten.
    Aber in ihrem Inneren waren sie
stark besorgt, und hinter diesem Scherz und Lachen über das Unglück wälzte ein
jeder, wie hinter einer Maske, im Geiste besorgte Gedanken und horchte
unaufhörlich auf das Rauschen des Wassers und des Windes unten in der Stadt,
in der ihm alles geblieben war, was er besaß. Und am nächsten Morgen, nach so
verbrachter Nacht, konnten sie vom Mejdan aus in der Ebene ihre Häuser sehen,
von denen einige zur Hälfte und andere bis zum Dach unter Wasser standen.
Damals sahen sie auch zum ersten und letzten Male im Leben ihre Stadt ohne
Brücke. Die Wasserfläche war um volle zehn Meter gestiegen, so daß sich die
weiten und hohen Bögen verstopft hatten und sich das Wasser über die Brücke
ergoß, die unter ihm verschwand. Nur die erhöhte Stelle, an der die Kapija stand,
erhob sich aus der ebenen Fläche trüben Wassers und ragte, vom Wasser
überflossen, wie ein

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