Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ivo Andric

Ivo Andric

Titel: Ivo Andric Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Brücke über die Drina
Vom Netzwerk:
wenig
spreche, denn dadurch wuchsen ihre Aussichten, sich bei den neuen Machthabern
einzuschmeicheln und ihre Vergangenheit vergessen zu machen. Aber die beiden
schönen Bauwerke an der Drina begannen schon ihre Wirkung auf Handel und
Wandel, auf die Stadt Wischegrad und die ganze Umgebung auszuüben und übten
sie weiter aus, ohne Rücksicht auf Lebende oder Tote, auf jene, die aufstiegen,
oder jene, die fielen. Die Stadt begann schnell, vom Hügel zum Wasser
hinabzusteigen, sich auszubreiten und zu entfalten und immer mehr um die Brücke
und das KarawanSerail zu drängen, das das Volk den Steinernen Chan nannte. So
ward die Brücke mit ihrer Kapija und so wuchs die Stadt um sie. Über drei
Jahrhunderte lang waren danach ihre Bedeutung für das Wachstum der Stadt und
ihre Bedeutung im Leben der Städter so, wie wir sie anfangs kurz geschildert
hatten. Als wäre Sinn und Wesen ihres Bestehens in ihrer Stetigkeit begründet.
Ihre lichte Linie im Bild der Stadt änderte sich ebensowenig wie die Konturen
der umliegenden Berge am Himmel. In der wechselnden Reihe und im Verblühen der
menschlichen Geschlechter blieb sie unverändert wie das Wasser, das unter ihr
dahinfließt. Auch sie alterte natürlich, aber nach einem Zeitmaß, das soviel
weiter war, nicht nur als die Länge eines Menschenlebens, sondern auch als
ganze Geschlechterreihen, daß man dieses Älterwerden mit dem Auge nicht
bemerken konnte. Ihr Lebensalter, wenn auch in sich sterblich, glich der
Ewigkeit, denn sein Ende war nicht abzusehen.

5
    Vorüber war das erste Jahrhundert, eine
Zeit, die lang und todbringend ist für die Menschen und viele ihrer Werke,
aber unfühlbar für große, gut erdachte und festgegründete Bauwerke, und die
Brücke mit der Kapija und das Karawan-Serail neben ihr standen und nützten den
Menschen wie am ersten Tage. So wäre über sie auch das zweite Jahrhundert
hinweggegangen mit seinem Wechsel der Jahreszeiten und menschlichen Geschlechter,
und die Bauwerke hätten ohne Änderung fortbestanden. Aber, was die Zeit nicht
vermochte, das erreichte das willkürliche und nicht voraussehbare
Zusammentreffen ferner Ereignisse.
    Zu dieser Zeit, gegen Ende des
siebzehnten Jahrhunderts, sang, sprach und flüsterte man in Bosnien viel von
Ungarn, das zu verlassen sich das türkische Heer nach hundertjähriger Besatzung
anschickte. Viele bosnische, mohammedanische Grundherren hatten ihre Gebeine
auf ungarischer Erde gelassen, als sie in den Kämpfen bei diesem Rückzug das
ungarische Besitztum, das sie für ihre Kriegstaten zu Lehen erhalten hatten,
verteidigten. Man hätte sagen können, daß dies die Glücklicheren waren, denn
mancher kehrte nackt und bloß in seine bosnische Heimat zurück, wo ihn ein
magerer Boden und ein enges und ärmliches Leben nach der reichen Weite und dem
Herrentum auf den großen ungarischen Besitzungen erwarteten. Ein fernes und
unklares Echo alles dessen gelangte auch bis hierher, aber niemand dachte auch
nur daran, daß dieses in Volksliedern besungene Land Ungarn sich
irgendwie mit dem wirklichen Alltagsleben der Stadt verknüpfen könnte. Aber
dennoch war es so. Mit dem Rückzug der Türken aus Ungarn blieben unter anderem
auch die Besitzungen jener Stiftung, aus der das Karawan-Serail in Wischegrad
erhalten wurde, außerhalb der Grenzen und gingen verloren.
    Sowohl die Leute in der Stadt als
auch die Reisenden, die schon über hundert Jahre den Steinernen Chan benutzten,
hatten sich an ihn gewöhnt und niemals auch nur darüber nachgedacht, aus
welchen Mitteln er erhalten wurde, wie diese aufgebracht würden und wo ihre
Quelle war. Alle benutzten ihn und genossen ihn wie einen gesegneten und
fruchttragenden Obstbaum am Wegesrand, der niemandem und jedem gehört;
mechanisch murmelten sie das obligate Gebet für den Seelenfrieden des Wesirs,
aber sie dachten nicht daran, daß der Wesir bereits hundert Jahre tot war, noch
fragten sie sich, wer heute des Sultans Land und Stiftungen erhalte und verteidige.
Wer konnte sich auch vorstellen, daß die Dinge in der Welt so voneinander
abhängen und auf so weite Entfernungen miteinander verknüpft sind? Daher
bemerkte man in der ersten Zeit in der Stadt überhaupt nicht, daß die Einnahmen
versiegt waren. Die Bedienung arbeitete, und der Chan nahm wie früher die
Reisenden auf. Man glaubte, das Geld zur Unterhaltung habe sich verspätet, wie
es auch früher geschehen war. Indessen vergingen die Monate und dann die Jahre,
aber das Geld kam nicht. Die Burschen

Weitere Kostenlose Bücher