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Ivo Andric

Ivo Andric

Titel: Ivo Andric Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Brücke über die Drina
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schwerer und qualvoller die Erinnerung war, desto größer war die
Freude am Erzählen. Betrachtet durch den Tabaksrauch oder durch ein Gläschen
milden Raki, änderten, vergrößerten und übertrieben Phantasie und Ferne oft
diese Szenen, aber das bemerkte niemand von ihnen, und jeder hätte geschworen,
daß sie wirklich so gewesen seien, denn unbewußt hatten sie sich alle an dieser
unabsichtlichen Verschönerung beteiligt.
    So lebten stets noch ein paar der
Alten, die sich des letzten »großen Hochwassers« erinnerten, über das sie immer
wieder miteinander sprechen konnten, wobei sie den Jüngeren gegenüber ständig
wiederholten, daß es solche Heimsuchungen wie einst nicht mehr gäbe, aber auch
nicht solchen Wohlstand und Segen.
    Eine der größten Überschwemmungen
überhaupt, die sich im letzten Jahre des achtzehnten Jahrhunderts ereignete,
blieb besonders lange in der Erinnerung haften und wurde immer wieder
erzählt.
    In der damaligen Generation soll es,
wie die Alten später erzählten, fast niemanden mehr gegeben haben, der sich
der letzten Überschwemmung noch gut erinnert hätte. Trotzdem waren sie alle in
jenen regnerischen Herbsttagen auf der Wacht gewesen, wußten sie doch, »daß
das Wasser ein tückischer Feind ist«. Sie räumten die Lagerräume in
unmittelbarer Nähe des Flusses, gingen nachts mit Laternen das Ufer ab und
horchten auf das Brausen des Wassers, denn die alten Leute behaupteten, man
könne an einem besonderen Rauschen der Strömung hören, ob das Hochwasser eines
der üblichen sein werde, die jedes Jahr die Stadt träfen und unbedeutenden
Schaden anrichteten, oder ob es eines jener, zum Glück seltenen, werde, die
Brücke und Stadt überschwemmten und alles forttrügen, was nicht stark gemauert
und fest gegründet sei. Am folgenden Tage sah man, daß die Drina nicht stieg,
und in dieser Nacht versank die Stadt in tiefen Schlaf, denn die Menschen waren
übermüdet von der Schlaflosigkeit und Aufregung der vergangenen Nacht. So geschah
es, daß das Wasser sie täuschte. In dieser Nacht kam in seit Menschengedenken
nicht dagewesener Stärke der Rsaw hinzu und verstopfte, von Schlamm gerötet,
die Drina an der Mündung und dämmte sie ab. So schlossen sich die beiden
Flüsse einfach über der Stadt zusammen.
    Beim Suljaga Osmanagitsch, einem der
reichsten Türken der Stadt, war damals ein reinblütiges Araberpferd, ein Fuchs
von hohem Wert und großer Schönheit. Sobald die aufgestaute Drina zu steigen
begann, volle zwei Stunden, ehe sie sich in die Straßen ergoß, begann dieser
Fuchs zu wiehern und hörte nicht auf, ehe er nicht das Gesinde und den
Hausherrn geweckt und sie ihn nicht aus dem Stall, der unmittelbar am Fluß lag,
hinausgeführt hatten. So wurde der größte Teil der Stadt geweckt. Unter dem
kalten Regen und wütenden Wind der düsteren Oktobernacht begann die Flucht und
die Bergung dessen, was sich bergen ließ. Nur halb bekleidete Menschen wateten
bis zu den Knien im Wasser und trugen auf ihrem Rücken aus dem Schlaf
aufgestörte, weinende Kinder. Das Vieh brüllte ängstlich. Jeden Augenblick
hörte man, wie Baumstämme und Wurzelknollen, die die Drina aus den
überschwemmten Wäldern mitführte, mit dumpfem Stoß an die Pfeiler der
steinernen Brücke schlugen.
    Oben auf dem Mejdan, bis zu dem das
Wasser niemals und in keinem Falle gelangen konnte, waren alle Fenster
erleuchtet und bewegten sich und schwangen unaufhörlich schwache Laternen
durch die Dunkelheit. Alle Häuser waren geöffnet und nahmen die betroffenen,
verregneten und verstörten Menschen mit ihren Kindern und der notdürftigen Habe
in den Armen bei sich auf. In den Schuppen brannten Feuer, an denen sich die
Menschen trockneten, die nicht in den Häusern Platz finden konnten.
    Die angesehensten Männer der Stadt
hatten sich, nachdem sie die Ihrigen in den Häusern, die Moslems bei den
Moslems und die Christen und Juden bei den Christen, untergebracht, im großen,
ebenerdigen Zimmer in Hadschi Ristans Hause versammelt. Hier saßen die
Bezirksältesten und Stadträte aller Stadtviertel, übermüdet und vom Regen
durchnäßt, nachdem sie alle ihre Mitbürger geweckt und der Reihe nach
fortgeschafft hatten. In bunter Reihe Mohammedaner, Christen und Juden. Die
Kraft der Elemente und die Last des gemeinsamen Unglücks hatten diese Männer
einander nähergebracht und wenigstens für diese Nacht jene Kluft überbrückt,
die den einen Glauben vom anderen trennte und besonders die Rajas von den
Türken.

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