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Ivo Andric

Ivo Andric

Titel: Ivo Andric Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Brücke über die Drina
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konnte. Mit einer
Hand, wie im Spiel, schnitt er dann die grünen Zweige ab. Dabei sang er aus
vollem Halse, einzelne Worte mit besonderem Genuß betonend. »Georg«, das ist
für ihn etwas Unklares, aber Großes und Kühnes. »Mädchen und Fahne« sind
ebenfalls ihm unbekannte Dinge, die aber irgendwie den höchsten Wünschen seiner
Träume entsprechen: ein Mädchen zu haben und die Fahne zu tragen. Auf jeden
Fall war es schön, diese Worte auszusprechen. Und alle Kraft, die er in sich
fühlte, trieb ihn, sie zahllose Male laut auszusprechen, und vom Aussprechen
dieser Worte wuchs wiederum die Kraft in ihm und zwang ihn, sie noch lauter zu
wiederholen.
    So sang Mile bei Tagesanbruch, bis
er die Bäumchen abgeschlagen und abgeästet, um die er in das Wäldchen hinaufgegangen.
Dann ging er den feuchten Hang hinunter, die grüne Last hinter sich herziehend.
Vor der Wassermühle waren ein paar Türken. Ihre Pferde hatten sie angebunden
und warteten auf etwas. Es waren ihrer etwa zehn. Er stand wieder so da, wie er
ins Holz gegangen war, ungeschickt, zerlumpt und verwirrt, ohne »Georg« vor den
Augen, ohne das Mädchen und die Fahne neben sich. Die Türken warteten, bis er
die Axt abgelegt, dann fielen sie von allen Seiten über ihn her, fesselten ihn
nach kurzem Kampf mit einem langen Halfterstrick und führten ihn in die Stadt.
Unterwegs schlugen sie ihn mit Knütteln auf den Rükken oder traten ihn mit den
Füßen in den Hintern und fragten ihn dabei, wo denn jetzt sein Georg sei. Dazu
fluchten sie auf seine Fahne und das Mädchen.
    Unter dem Blockhaus auf der Kapija,
wo sie gerade jenen verrückten Alten gefesselt hatten, sammelten sich,
obgleich der Morgen erst dämmerte, schon neben den Soldaten auch einige
Müßiggänger aus der Stadt. Unter ihnen waren geflüchtete Türken, Abgebrannte
aus Serbien. Alle waren bewaffnet und feierlich, als handle es sich um ein
großes Ereignis und um einen Entscheidungskampf. Ihre Aufregung stieg noch mit
der aufgehenden Sonne. Und die Sonne stieg schnell, begleitet von leuchtenden,
roten Nebeln, unten am Horizont, oberhalb von Golesch. Den verstörten jungen
Menschen empfingen sie, als sei er der Führer des Aufstandes, obgleich er
zerlumpt und arm war und vom linken Drinaufer herbeigeführt wurde, auf dem es keinen
Aufstand gab.
    Die Türken aus Orachowatz und
Olujak, aufgebracht über die Frechheit, von der sie einfach nicht glauben
konnten, daß sie nicht beabsichtigt sei, bezeugten, daß der Bursche unmittelbar
am Wege herausfordernde Lieder von Karageorge und ungläubigen Kämpfern
gesungen habe. Der Bursche sah wirklich nicht nach irgendeinem Helden oder
gefährlichen Anführer eines Kampfes aus. Verängstigt, in feuchten Lumpen,
zerkratzt und verprügelt, bleich blickte er mit vor Aufregung schielenden Augen
den Wachhabenden an, als erwarte er von ihm die Rettung. Da er selten in die
Stadt kam, wußte er nicht einmal, daß man auf der Brücke ein Blockhaus gebaut
hatte; daher erschien ihm alles noch sonderbarer und unwirklicher, als habe er
sich im Traum in eine fremde Stadt unter böse und gefährliche Menschen
verirrt. Stotternd versicherte er mit gesenktem Blick, er sei ein armer
Müllerbursche, er habe Holz geschnitten und wisse selbst nicht warum man ihn
hergeführt. Er zitterte vor Furcht und konnte in der Tat nicht begreifen, was
eigentlich geschehen und wie er aus jener festlichen Stimmung im frischen Wald
plötzlich gefesselt und verprügelt auf die Kapija in den Mittelpunkt der
Aufmerksamkeit so vieler Menschen gekommen war, denen er jetzt Rede und Antwort
stehen sollte. Daß er jemals auch nur das unschuldigste Lied gesungen, das
hatte er längst selbst vergessen.
    Aber die Türken blieben beim
Ihrigen: er habe aufrührerische Lieder gesungen, und das in dem Augenblick, als
sie vorübergekommen seien, und er habe sich widersetzt, als sie ihn hätten
fesseln wollen. Und dies bestätigte ein jeder von ihnen unter Eid dem
Wachhabenden, der sie verhörte.
    »Valachi? – Bei Gott?«
    »Valachi! – Bei Gott!«
    »Bilachi? – Auf Eid?«
    »Bilachi! – Auf Eid!«
    Und so dreimal. Dann stellten sie
den Burschen neben Jelisije und gingen, den Henker zu wecken, der, wie es
schien, einen besonders festen Schlaf hatte. Der Alte blickte den Jungen an,
der verwirrt mit den Augen blinzelte, fassungslos und beschämt, ungewohnt, so
abgesondert am hellichten Tage mitten auf der Brücke unter so vielen Menschen
zu stehen.
    »Wie heißt du?« fragte der Alte.
    »Mile«,

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