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Ivo Andric

Ivo Andric

Titel: Ivo Andric Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Brücke über die Drina
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für den Kopf des alten Schwärmers am
ungünstigsten war, dieser Schefko, der gerne schnüffelte und weitermeldete und
der auch ohne Grund imstande war, ein böses Wort auszusagen oder zu beschwören.
Da waren auch diese Stadttürken, Freiwillige, die, finster und gewichtig, die
Stadt abgingen, verdächtige Reisende festnahmen und sich ohne Grund in seine
dienstlichen Angelegenheiten einmischten. Alles dies traf zusammen. Und alle
waren sie in diesen Tagen wie trunken vor Erbitterung, vor dem Wunsch, sich zu
rächen und den zu bestrafen und zu erschlagen, den sie erreichen konnten, wenn
sie schon nicht den erreichen konnten, den sie möchten. Er verstand sie nicht
und gab ihnen auch nicht recht, aber er sah, daß sie alle darauf brannten, das
Blockhaus müsse schon am ersten Morgen sein Opfer erhalten, und er
befürchtete, daß auch er wegen ihrer trunkenen Erbitterung dafür büßen müßte,
wenn er sich ihnen widersetzte. Der Gedanke aber, daß er wegen dieses
verrückten Alten Verdruß haben könnte, schien ihm unerträglich. Und der Alte
mit seinen Reden vom Serbischen Reich wäre auch nicht weit gekommen zwischen
den Türken dieser Gegend, unter denen es in diesen Tagen wie im Bienenstock
summte. Mochte ihn also das trübe Wasser forttragen, wie es ihn herangetragen.
    Kaum war der Alte gefesselt und der
Wachhabende bereit, in die Stadt zu gehen, um nicht der Hinrichtung zuzusehen,
da erschienen die Posten und ein paar Türken, die einen ärmlich gekleideten
jungen Serben heranführten. Seine Kleidung war zerfetzt und Gesicht und Hände
zerkratzt. Es war ein gewisser Mile, ein armer Waisenjunge aus Lijeska, der in
einer Wassermühle in Osojnitza in Diensten stand. Er war höchstens seine neunzehn
Jahre alt, gesund, stark und vollblütig.
    Mile hatte vor Sonnenaufgang Gerste
in den Mühlentrichter geschüttet und das Wasser in den großen Mühlengraben
hineingelassen und war dann in ein Gehölz oberhalb der Mühle gegangen, um Holz
zu schneiden. Tüchtig ausholend, hackte er die weichen Erlenzweige wie Stroh.
Er fand Vergnügen an der Frische und Leichtigkeit, mit der das Holz unter
seiner Axt fiel. Seine eigenen Bewegungen beglückten ihn. Und die Axt war
scharf, und das schlanke Holz war zu dünn für die Kraft, die er in sich fühlte.
Irgend etwas in ihm blähte sich auf und trieb ihn, bei jeder Bewegung zu
jauchzen. Diese Jauchzer folgten einander immer schneller und verknüpften sich
miteinander. Und Mile, der, wie alle Lijeskaer, weder Gehör hatte noch singen
konnte, gröhlte aus vollem Halse in diesem dichten schattigen Gehölz. Ohne
sich etwas zu denken und im völligen Vergessen, wo er sich eigentlich befand,
sang er, was er von anderen hatte singen hören.
    Zur Zeit da sich Serbien »erhob«,
hatte das Volk aus dem alten Lied:
    Als Alibeg, ein junger Held, im
Felde war,
    Ein Mädchen war sein Fahnenträger,
    ein neues gemacht:
    Als Georg, noch ein junger Held, im
Felde war,
    Ein Mädchen war sein Fahnenträger.
    In diesem großen und seltsamen Kampfe, der in
Bosnien jahrhundertelang zwischen den beiden Religionen und, unter dem
Deckmantel der Religion, um das Land, die Macht und die eigene
Lebensauffassung und Weltordnung geführt wurde, hatten die Gegner einander
nicht nur die Frauen, Pferde und Waffen, sondern auch die Lieder abgenommen.
Und mancher Vers ging auf diese Art wie eine wertvolle Beute vom einen zum
anderen über.
    Gerade dieses Lied wurde in der
letzten Zeit unter den Serben gesungen, aber vorsichtig und versteckt, fern
jedem türkischen Ohr, hinter verschlossenen Türen, auf Familienfesten oder entfernten
Weideplätzen, die ein türkischer Fuß kaum einmal im Jahre betrat und auf denen
der Mensch um den Preis der Ein samkeit und Armut in der Wildnis lebte, wie er
wollte, und sang, was er wollte. Und gerade dieses Lied war Mile, dem
Müllerburschen, eingefallen, um es im Wäldchen, unmittelbar unterhalb des
Weges, zu singen, auf dem die Türken aus Olujak und Orachowatz in die Stadt zum
Markt zogen.
    Der Morgen graute erst auf den
Bergspitzen, und hier in seiner Umgebung, im Schatten, herrschte noch völlige
Dämmerung. Ganz taufrisch war er, warm von gutem Nachtschlaf, heißem Brot und
lebhafter Arbeit. Er holte aus und schlug die schlanke Erle nahe an der Wurzel,
und sie beugte sich wie die junge Braut über die Hand des Gevatters; sie
überschüttete ihn mit kaltem Tau wie mit feinem Regen und blieb gebeugt stehen,
denn das Wäldchen war so dicht, daß sie nicht zu Boden fallen

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