Ivo Andric
Gericht, wo sie der Kadi mit Mustajbegs Sohn
verheiraten wird, bis zum Ende der Brücke, wo der steile, steinige Abhang sich
zu dem schmalen Pfad senkt, auf dem man nach Nesuke gelangt und auf den sie,
das weiß sie mit Gewißheit, niemals ihren Fuß setzen wird. Dieses Stückchen
Weges durchflog ihr Gedanke unaufhörlich von einem Ende zum anderen, wie ein
Weberschiffchen durch das Gewebe fliegt. Vom Gericht durch die halbe Stadt,
dann über den Markt bis zum Ende der Brücke, aber von dort kehrt er jedesmal
wie vor einem Abgrund um, über die Brücke, den Markt, durch die halbe Stadt,
zum Gericht. Und immer wieder: vor – zurück, vor – zurück! Hier webte sich ihr
Schicksal.
Und dieser Gedanke, der weder
stillstehen noch einen Ausweg zu finden vermochte, machte immer häufiger auf
der Kapija halt, auf jenem schönen und lichten, steinernen Sofa, auf dem die
Männer im Gespräch sitzen und die Jungen singen, unter dem der grüne, schnelle
und tiefe Fluß rauscht. Erschreckt von einem solchen Ausweg, eilte er dann, wie
fluchbeladen, immer wieder vom einen Ende des Weges zum anderen und machte,
nachdem er keine andere Lösung gefunden, erneut auf der Kapija halt. Und mit
jeder Nacht hielt ihr Gedanke immer häufiger an dieser Stelle und verweilte
immer länger an ihr. Aber schon die Vorstellung jenes Tages, da sie wirklich
und nicht nur in ihren Gedanken diesen Weg gehen und noch vor dem Ende der
Brücke einen Ausweg finden müßte, trug den ganzen Schrecken des Todes und die
ganze Furchtbarkeit eines Lebens in Schande in sich. In ihrer Ohnmacht und
Verlassenheit schien es ihr, als müsse allein die Furchtbarkeit eines solchen
Gedankens diesen Tag in die Ferne rücken oder wenigstens hinauszögern.
Aber die Tage vergingen, weder
schnell noch langsam, sondern gleichmäßig und schicksalsschwer, und mit ihnen
rückte auch der Hochzeitstag heran.
Am letzten Donnerstag im August (das
war dieser vom Schicksal bestimmte Tag) kamen die Hamsitsch zu Pferde, um das
Mädchen zu holen. Unter dem schweren, neuen Übergewand, wie unter einem Panzer,
wurde Fata auf das Pferd gesetzt und in die Stadt geführt. Zur gleichen Zeit
wurden im Hofe die Pferde mit den Kisten der Brautausstattung beladen. Auf dem
Gericht wurde vor dem Kadi die Eheschließung vollzogen. So war das Wort
gehalten, mit dem Awdaga seine Tochter dem Sohne Mustajbegs gab. Danach setzte
sich der kleine Zug nach Nesuke in Bewegung, wo das Hochzeitsfest vorbereitet
war.
Die halbe Stadt und den Markt hatten
sie hinter sich gelassen, diesen Teil jenes ausweglosen Weges, den Fata in
Gedanken so viele Male zurückgelegt hatte. Es war hart, wirklich, gewöhnlich
und fast leichter, als es in Gedanken war. Weder Sterne noch Weiten noch das
erstickte Husten des Vaters noch der Wunsch, daß die Zeit schnell oder
langsamer gehen möge. Als sie auf die Brücke kamen, fühlte das Mädchen noch
einmal, wie in den Sommernächten am Fenster, jeden Teil ihres Körpers, krafterfüllt
und losgelöst, und besonders die Brüste in einem leichten Krampf wie in einem
Panzer. Sie kamen auf die Kapija. Wie sie es viele Male in Gedanken getan,
beugte sich das Mädchen hinüber und bat flüsternd den jüngsten Bruder, der
neben ihr ritt, er möge ihr die Steigbügel ein wenig kürzen, denn jetzt käme
jener steile Übergang von der Brücke auf den steinernen Pfad, der nach Nesuke
führt. Sie hielten an, zunächst die beiden, dann, etwas zurück, die übrigen
Hochzeitsgäste zu Pferde. Nichts Ungewöhnliches war darin. Es war weder das
erste noch das letztemal, daß Hochzeiten auf der Kapija haltmachten. Während
der Bruder abstieg, das Pferd umging und die Zügel über den Arm warf, trieb das
Mädchen das ihrige an den äußersten Rand der Brücke, setzte ihren rechten Fuß
auf die steinerne Brüstung, schwang sich, wie beflügelt, aus dem Sattel über
die Mauer und stürzte sich aus der Höhe in den brausenden Fluß unter der
Brücke. Der Bruder, der ihr nachstürzte und mit seinem ganzen Körper auf der
Brüstung lag, konnte gerade noch mit der Hand ihr weites Übergewand ergreifen,
vermochte sie aber nicht zu halten. Die übrigen Hochzeitsgäste sprangen mit
wilderschreckten Aufschreien von den Pferden und standen dann einen Augenblick
in den seltsamsten Stellungen, als wären sie versteinert, an der steinernen
Brüstung.
Noch am gleichen Tag fiel gegen
Abend ein ausgiebiger und für diese Jahreszeit ungewöhnlich kalter Regen. Die
Drina schwoll an und trübte sich. Am nächsten
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