Ivo Andric
Tage warf das hochgehende, gelbe
Wasser Fatas Leiche auf eine Sandbank bei Kalata. Dort bemerkte sie ein Fischer
und ging sofort und meldete es dem Polizeihauptmann, dem Mulasim. Bald darauf
traf der Mulasim mit dem Stadtältesten, dem Fischer und Salko Tschorkan ein. Denn
ohne Tschorkan konnte ein solches Ereignis nicht vor sich gehen.
Die Leiche lag im weichen, nassen
Sand. Die Wellen bespülten und übergossen sie von Zeit zu Zeit mit trübem
Wasser. Das neue Übergewand aus schwarzem Tuch, das das Wasser nicht hatte
abreißen können, hatte sich umgestülpt, den Kopf eingehüllt und bildete, mit
dem langen und dichten Haar vermischt, eine schwarze Masse neben dem weißen und
üppigen Mädchenkörper, von dem die Flut die leichten Hochzeitskleider abgerissen
hatte. Gramumwölkt, mit zusammengebissenen Zähnen betraten Tschorkan und der
Fischer die Sandbank, berührten vorsichtig und schüchtern das Mädchen, als
lebe es noch, zogen es aus dem feuchten Sand, in dem es zu versinken begann,
trugen es auf das Ufer und bedeckten es da sofort mit ihrem Übergewand, das
naß und voller Schlamm war.
Noch am gleichen Tage wurde die
Ertrunkene auf dem nächsten türkischen Friedhof, am steilen Hang unter dem
Gipfel beerdigt, auf dem sich der Welji Lug erhebt. Am Abend aber sammelten
sich die müßigen Leute in der Schenke um den Fischer und Tschorkan mit jener
ungesunden und häßlichen Neugierde, die besonders bei Leuten entwickelt ist,
deren Leben leer, bar jeder Schönheit und arm an Aufregungen und Erlebnissen
ist. Sie traktierten die beiden mit Raki und Tabak, um von ihnen vielleicht
irgendeine Einzelheit über die Leiche und die Beisetzung zu hören. Aber nichts
half. Auch der Raki konnte ihnen nicht die Zunge lösen. Nicht einmal Tschorkan,
der Einäugige, sprach etwas. Er rauchte unaufhörlich und blickte mit seinem
einzigen, glänzenden Auge dem Rauch nach, den er mit starkem Stoß möglichst
weit von sich fortblies. Nur von Zeit zu Zeit sahen sich die beiden, Tschorkan
und der Fischer, an, erhoben schweigend ihre Rakigläser, beide im gleichen
Augenblick, als stießen sie unsichtbar miteinander an, und leerten sie auf
einen Zug.
So geschah dies Ungewöhnliche und
noch nicht Dagewesene auf der Kapija. Der Welji Lug stieg nicht nach Nesuka
hinab, und Awdagas Fata heiratete keinen Hamsitsch.
Awdaga Osmanagitsch kam nicht mehr
in die Stadt hinunter. Er starb noch im gleichen Winter, erstickt vom Husten
ohne je zu einer Menschenseele auch nur ein Wort über den Gram zu sagen, an dem
er starb.
Im nächsten Frühjahr verheiratete
Mastujbeg Hamsitsch seinen Sohn mit einem anderen Mädchen aus Brankowitschi.
In der Stadt sprach man noch eine
Weile von diesem Ereignis, dann aber begann man es zu vergessen. Es blieb nur
das Lied von dem Mädchen, das durch seine Schönheit und Klugheit über alles
leuchtet, als sei es unvergänglich.
9
Etwa siebzig Jahre nach Karageorges
Aufstand gab es wieder Krieg in Serbien, und sofort antwortete die Grenze mit
einem Aufstand. Wiederum flammten türkische und serbische Häuser auf den Höhen
in Schlijeb, Gostilja, Crntschitschi und Weletowo auf. Zum ersten Male nach so
vielen Jahren erschienen auf der Kapija wieder die abgeschlagenen Köpfe
hingerichteter Serben. Es waren magere und kurz geschorene Bauernschädel, mit
flachen Hinterköpfen, knochigen Gesichtern und langen Schnurrbärten: ganz als
wären es dieselben wie vor siebzig Jahren. Aber das alles hielt nicht lange
an. Sobald der Krieg zwischen der Türkei und Serbien zu Ende ging, beruhigten
sich die Leute wieder. Es war zwar nur ein scheinbarer Friede, und hinter ihm
verbargen sich Furcht, aufgeregte Gerüchte und besorgtes Flüstern. Immer
bestimmter und offener sprach man vom Einmarsch österreichischer Truppen in
Bosnien. Im Frühsommer 1878 zogen Einheiten der regulären türkischen Armee auf
dem Marsch von Sarajewo nach Priboj durch die Stadt. Es setzte sich die Meinung
fest, daß der Sultan Bosnien ohne Widerstand übergeben würde. Einige
mohammedanische Familien bereiteten sich vor, in den Sandschak überzusiedeln,
unter ihnen waren auch solche, die vor dreizehn Jahren aus Uschitze zugezogen
waren, weil sie nicht unter serbischer Herrschaft hatten leben wollen. Nun
schickten sie sich wiederum an, vor einer anderen, neuen christlichen
Herrschaft zu flüchten. Die meisten aber blieben und warteten in peinlicher
Unschlüssigkeit und scheinbar gleichmütig die Ereignisse ab.
Anfang Juli kam der Mufti aus
Plewlje mit
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