Ivo Andric
ihres Körpers wie eine besondere Quelle der Freude und
Kraft; die Füße, Hüften, Arme, den Hals und besonders die Brüste. Ihre Brüste,
üppig und schwer, aber fest, berührten das hölzerne Gitter am Fenster. Und an
dieser Stelle fühlt sie, wie der ganze Hügel, mit allem, was auf ihm ist, mit
dem Haus, den Gebäuden und Äckern, warm, tief, gleichmäßig atmet und sich
zusammen mit dem lichten Himmel und der nächtlichen Weite hebt und senkt. Von
diesem Atmen steigt und fällt, steigt und fällt das hölzerne Gitter am Fenster,
berührt die Spitzen ihrer Brüste und entfernt sich irgendwohin, weit von ihr,
kommt zurück und berührt sie von neuem, senkt und entfernt sich dann wieder in
stetigem Wechsel.
Ja, die Welt ist groß, gewaltig ist
die Welt auch am Tage, wenn das Wischegrader Tal vor Hitze zittert und das
Getreide fast hörbar heranreift, wenn die Stadt weiß leuchtet, ausgegossen um
den grünen Fluß und abgeschlossen durch die grade Linie der Brücke und die
schwarzen Berge. Aber des Nachts, des Nachts erst, wenn sich der Himmel belebt
und aufflammt, öffnet sich die Unendlichkeit und gewaltige Kraft dieser Welt,
in der man sich verliert und sich selbst nicht zu finden vermag, noch weiß,
wohin man gegangen, noch was man will oder tun soll. Hier lebt man nur,
wahrhaft, heiter und lange, hier gibt es weder Worte, die schwer für das ganze
Leben verpflichten, noch todbringende Versprechungen oder ausweglose Situationen
mit einer kurzen Frist, die unerbittlich läuft und abläuft, mit Tod oder
Schande als einzigem Ausweg am Ende. Ja, hier ist es nicht wie im Alltagsleben,
wo das einmal Gesagte unwiderruflich und das Versprochene unausweichlich
bleibt. Hier ist alles frei, unendlich, namenlos und stumm.
Da ertönt von irgendwo unten ein
schwerer, tiefer und erstickter Laut:
»Aaach, kchkchkch! Aaach,
kchkchkch!«
Da unten im Erdgeschoß kämpft Awdaga
mit seinen nächtlichen Hustenanfällen.
Sie erkennt diese Stimme nicht nur,
sondern sie sieht auch den Vater deutlich, wie er dasitzt und raucht, nach Atem
ringt und vom Husten gequält wird. Sie sieht, so scheint es ihr, seine großen,
braunen Augen, bekannt wie eine teure Landschaft, diese Augen, die völlig den
ihren gleichen, nur daß sie vom Alter beschattet und erfüllt sind von einem
tränenschweren, lächelnden Glanz, diese Augen, in denen sie die Ausweglosigkeit
ihres Geschickes zum ersten Male an jenem Tage erschaute, als ihr gesagt
wurde, daß sie den Hamsitsch versprochen sei und sich in einem Monat die
Aussteuer vorbereiten solle.
»Kcha, kcha, kcha! Aach!«
Jener Rausch der nächtlichen
Schönheit und Größe der Welt, den sie noch eben verspürt, erlischt kraß. Jenes
üppige Atmen der Erde hört auf. Die Brüste des Mädchens erstarren in einem
leichten Krampf. Die Sterne und die Weiten versinken. Nur das Schicksal, ihr
Schicksal, ausweglos, jäh, morgig, erfüllt und vollzieht sich, gleichzeitig
mit der verrinnenden Zeit, in der Stille der Reglosigkeit und Leere, die hinter
allem bleibt.
Dumpf hallt der Husten aus dem
Erdgeschoß.
Ja, sie hört und sieht ihn, als sei
er hier vor ihr. Das ist ihr lieber, mächtiger, einziger Baba, ihr Vater, mit
dem sie sich eins fühlt, untrennbar, süß, seit sie von sich weiß. Und selbst
dieses schwere und erschütternde Husten fühlt sie in der eigenen Brust. Sein
Mund hat zwar dort ja gesagt, wo sie nein sagte. Aber sie ist in allem
eins mit ihm, also auch darin. Und dieses Ja empfindet sie als ihres
(ebensosehr wie auch ihr Nein). Und daher ist ihr Schicksal jäh,
ungewöhnlich, dem kommenden Tag anheim gegeben – daher sieht sie keinen Ausweg
und kann ihn auch nicht sehen, denn es gibt keinen. Eines weiß sie. Wegen
dieses väterlichen Ja, das sie ebenso bindet wie ihr Nein, muß
sie mit Mustajbegs Sohn vor den Kadi treten, denn es ist unausdenkbar, daß
Awdaga Osmanagitsch sein Wort nicht hielte. Aber ebenso weiß sie, ebenso gut
und sicher, daß ihr Fuß Nesuke nicht betreten kann, denn dann würde wiederum
sie ihr Wort nicht halten. Das aber ist natürlich unmöglich, denn auch das ist
das Wort eines Osmanagitsch. Hier, an diesem toten Punkt, zwischen ihrem Nein und dem väterlichen Ja, zwischen dem Welji Lug und Nesuke, hier an
der ausweglosesten Stelle muß sie einen Ausweg suchen. Dort weilen jetzt ihre
Gedanken. Nicht mehr in den Weiten der großen und reichen Welt, nein, nicht
einmal auf dem ganzen Wege vom Welji Lug bis Nesuke, sondern auf jener kurzen
und traurigen Wegstrecke vom
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