Ivo Andric
Mitbürger kannte, war er gegen einen unorganisierten
Volkswiderstand, der nur eine Niederlage bringen und das Unglück noch schwerer
machen würde. Nachdem sich aber diese Auffassung einmal in seinem Kopfe
festgesetzt hatte, sprach er sie offen aus und verteidigte sie scharf. Auch
dieses Mal stellte er unbequeme Fragen und machte scharfsinnige Bemerkungen,
die den Mufti am meisten verwirrten. Damit stärkte er unter den Wischegradern,
die auch sonst nicht schnell zum Kampf und nicht besonders zu Opfern bereit
waren, ungewollt den Geist des Widerstandes gegen die kriegerischen Absichten
des Mufti.
Als Osman Effendi Karamanli
zurückgeblieben war, um die Gespräche mit den Wischegradern fortzusetzen, fand
er sich Alihodscha gegenüber. Und einige Begs und Agas, die die Worte erst
lange im Munde herumwälzten und die Ausdrücke abwogen, in Wirklichkeit aber
völlig mit Alihodscha übereinstimmten, sahen zu, wie der ehrliche und
aufbrausende Hodscha sich zu weit vorwagte, und ließen ihn die Angelegenheit
mit Karamanli ausfechten.
Die angesehenen Wischegrader Türken
saßen am Abend mit gekreuzten Beinen, nach Alter und Ansehen im Kreise geordnet,
auf der Kapija. Unter ihnen Osman Effendi, ein großer, magerer und bleicher
Mann. Jeder Muskel seines Gesichtes war unnatürlich gespannt, die Augen
fiebrig, Stirn und Wangen voller Narben, wie bei einem Fallsüchtigen. Ihm
gegenüber stand frisch, ziemlich klein, aufrecht und hitzig Alihodscha und
stellte mit seiner schrillen Stimme immer neue Fragen. Welche Kräfte hat man?
Wohin geht man? Mit welchen Mitteln? Wie? Was ist das Ziel? Was wird im Falle
eines Mißlingens? Die kalte, fast schadenfrohe Kleinlichkeit, mit der der
Hodscha diese Angelegenheit behandelte, verhüllte nur seine eigene Besorgnis
und Bitterkeit angesichts der christlichen Übermacht und der augenfälligen
türkischen Ohnmacht und Zerrüttung. Aber der fanatische und dunkle Osman
Effendi war nicht der Mann, solche Dinge zu sehen und zu verstehen.
Gewalttätiger und maßloser Natur, ein krankhafter Fanatiker, verlor er schnell
die Geduld und Beherrschung und stürzte sich auf jedes Zeichen des Zweifels
und der Nachgiebigkeit, als handle es sich um die Schwaben selbst. Dieser
Hodscha reizte ihn, und er antwortete ihm in verhaltener Wut, nur mit
allgemeinen Ausdrücken und groben Worten. Man ginge, wohin man müsse und mit
dem, was man habe. Hauptsache sei, den Erzfeind nicht kampflos in das Land zu
lassen, wer aber viel frage, störe nur und helfe dem Gegner. Schließlich
antwortete er, völlig in Harnisch geraten, mit kaum verhüllter Verachtung auf
jede Frage des Hodscha: »Es ist Zeit zu sterben«, »Wir wollen lieber im Kampfe
sterben«, »Wir werden alle bis auf den letzten Mann fallen.«
»Ach so«, fiel ihm der Hodscha ins
Wort, »und ich habe gedacht, ihr wolltet die Schwaben aus Bosnien vertreiben
und hättet uns dazu zusammengerufen. Wenn es aber ums Sterben geht, auch wir
wissen zu sterben, Effendi, auch ohne dich. Es ist nichts leichter als
Sterben.«
»Ich sehe schon, dir steht der Sinn
nicht nach Sterben«, antwortete ihm Karamanli grob.
»Ich sehe jedenfalls, daß dir der
Sinn nach Sterben steht«, antwortete der Hodscha scharf, »nur weiß ich nicht,
warum du für dieses dumme Geschäft auch noch Gesellschaft suchst.«
Hier artete das Gespräch in einen
gewöhnlichen Streit aus, in dem Osman Effendi den Alihodscha als Ungläubigen
bezeichnete, als einen jener Verräter, deren Köpfe, wie die der Rebellen, auf
dieser Kapija verfaulen sollten, der Hodscha aber trieb seine Haarspalterei
weiter und verlangte hartnäckig Gründe und Beweise, gerade als höre er die
Beleidigungen und Drohungen nicht.
Man hätte schwerlich zwei
schlechtere Unterhändler und weniger zueinander passende Menschen finden
können. Nichts anderes war von ihnen zu erwarten, als daß sie die allgemeine
Verwirrung vergrößerten und einen weiteren Streit schufen. Das war zu bedauern,
aber nicht zu ändern, denn in den Augenblicken allgemeiner Erschütterungen und
großer, unerbittlicher Veränderungen tauchen gewöhnlich gerade solche entweder
mit Krankheit oder Mängeln behaftete Menschen auf und führen die Dinge falsch
oder auf den Holzweg. Dies ist eben eines der Zeichen unruhevoller Zeiten.
Den Begs und Agas aber war dieser
leere Streit willkommen, blieb doch so die Frage ihrer Teilnahme am Aufstand
offen, und sie mußten sich nicht selbst unmittelbar äußern. Vor Wut zitternd
und laut drohend, zog Osman
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