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Ivo Andric

Ivo Andric

Titel: Ivo Andric Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Brücke über die Drina
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Tiefe wurde lauter. Im Bemühen, sich zu
sammeln und zu erkennen, wo er sich befand und was mit ihm geschehen, betastete
Milan den Stein, auf dem er saß. Dann erhob er sich schwer und ging wie auf
fremden Füßen heim auf den Okolischte.
    Stöhnend und wankend kam er kaum bis
vor das Haus. Dort fiel er wie ein Verwundeter nieder und schlug mit dem Körper
dumpf an die Tür. Die wachgewordenen Hausgenossen brachten ihn ins Bett.
    Zwei Monate lag er in
Fieberdelirien. Sie glaubten, er würde es nicht überstehen. Pope Nikola kam und
gab ihm die Letzte Ölung. Dennoch kam er zu sich und stand wieder auf, aber als
ein anderer Mensch. Er war vorzeitig zum Greis geworden und zum Sonderling, der
zurückgezogen lebte, wenig sprach und mit den Leuten nicht mehr Umgang pflegte,
als er mußte. Auf seinem Gesicht, das kein Lächeln kannte, lag ständig der
Ausdruck einer schmerzlichen, gespannten Aufmerksamkeit. Er kümmerte sich nur
um sein Haus und ging seinen Geschäften nach, als habe er nie etwas von
Geselligkeit und von Karten gewußt.
    Noch während er krank war, erzählte
er dem Popen Nikola alles, was ihm in jener Nacht auf der Kapija zugestoßen,
und später sagte er es noch zwei guten Freunden, denn er fühlte, daß er mit
diesem Geheimnis auf der Seele nicht leben könnte. Die Leute hörten etwas und,
als sei zu wenig, was wirklich geschehen, fügten sie noch etwas hinzu und
schmückten die ganze Erzählung aus. Dann aber wandten sie, wie es die Leute
gewöhnlich tun, ihre Aufmerksamkeit dem Schicksal eines anderen zu und
vergaßen Milan und sein Erlebnis. So lebt, arbeitet und bewegt sich unter den
Städtern, was vom einstigen Milan Glasintschanin übriggeblieben war. Die
jüngere Generation kennt ihn nur so, wie er heute ist, und ahnt nicht, daß er
jemals anders gewesen. Und er selbst hat es so gut wie vergessen. Wenn er, von
seinem Hause zur Stadt herunterkommend, mit dem schweren und langsamen Schritt
eines Nachtwandlers über die Brükke wandert, dann geht er ohne die geringste
Erregung, ja sogar ohne Erinnerung, an der Kapija vorüber. Es fällt ihm nicht
einmal ein, daß dieses Sofa mit den weißen, steinernen Sitzen und sorglosen
Menschen irgendwelche Verbindung mit jenem furchtbaren Ort haben könnte,
irgendwo am Ende der Welt, an dem er eines Nachts sein letztes Spiel spielte,
alles auf die trügerische Karte setzend, was er besaß, ja auch sich selbst und
sein Leben, hier wie im Jenseits.
    Überhaupt fragte sich Milan oft, ob
nicht dieses ganze nächtliche Erlebnis auf der Kapija nur ein Traum gewesen,
den er geträumt, während er bewußtlos vor der Haustür lag, nur die Folge,
nicht aber die Ursache seiner Krankheit. Auch Pope Nikola und die beiden
Freunde, denen er sich anvertraut, sind eigentlich eher geneigt, Milans ganze
Erzählung als Traum und Phantasie anzusehen, die ihm im Fieber erschien. Denn
niemand von ihnen glaubt recht daran, daß der Teufel »Otuz bir« spielt und den
auf die Kapija führt, den er holen will. Aber unsere Erlebnisse sind häufig so
verwickelt und schwierig, daß es kein Wunder ist, wenn sie die Menschen mit
der Teilnahme des Leibhaftigen selbst rechtfertigen, indem sie sich bemühen,
sie damit zu erklären oder zumindest leichter erträglich zu machen.
    Nun, wie es auch gewesen sein mag,
ob mit dem Teufel oder ohne seine Hilfe, ob im Traum oder in Wahrheit, sicher
ist, daß Milan Glasintschanin, nachdem er über Nacht Gesundheit, Jugend und
ungeheures Geld verloren, wie durch ein Wunder für immer seiner Leidenschaft
ledig wurde. Und nicht nur dies. An Milan Glasintschanins Erzählung knüpft sich
die Geschichte noch eines Schicksals, und auch deren Faden geht von der Kapija
aus.
    Am nächsten Tage, nach jener Nacht,
in der Milan Glasintschanin – im Traum oder im Wachen – sein furchtbares und
letztes Spiel auf der Kapija spielte, kam ein sonniger Herbsttag herauf. Es war
ein Sonnabend. Wie immer des Sonnabends, versammelten sich auf der Kapija die
Wischegrader Juden, Kaufleute, mit ihren Söhnen. Müßig und feiertäglich, in
Atlashosen und Ober kleidern aus Tuch, mit dunkelrotem, flachem Fez auf dem
Kopf, heiligten sie streng den Tag des Herrn, indem sie am Fluß entlang
wandelten, als suchten sie jemand in ihm.Meist aber saßen sie auf der Kapija und
führten laute und lebhafte Gespräche in altspanischer 19 Sprache, wobei sie nur die Kraftausdrücke auf serbisch aussprachen.
    Unter den ersten, die an diesem
Morgen auf der Kapija erschienen, war Bukus Gaon, der

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