Ivo Andric
fragt, was wir tun sollen:
Ich denke, einen offenen Aufstand zu machen, sind wir nicht fähig. Das sieht
auch Gott, und die Menschen wissen es. Aber wir brauchen auch nicht in allem zu
gehorchen, was man uns befiehlt. Niemand braucht sich ihre Hausnummern zu
merken oder zu sagen, wie alt er ist, mögen sie selbst erraten, wann wer geboren
ist. Wenn sie aber zu weit gehen und an die Familie und an das, was unsere Ehe
betrifft, rühren, verweigern wir es und dann mag geschehen, was uns von Gott
bestimmt ist.«
Noch lange sprachen sie über diese
unbequemen Maßnahmen der Obrigkeit, aber im wesentlichen blieb es bei dem, was
Alihodscha gesagt: beim passiven Widerstand. Die Leute verbargen ihre Jahre
oder machten falsche Angaben und entschuldigten sich damit, daß sie nicht
lesen und schreiben könnten. Nach den Frauen aber durfte niemand auch nur
fragen, denn das hätten sie als schwerste Beleidigung angesehen. Die Tafeln
mit den Hausnummern befestigten sie allen Anweisungen und Drohungen der
Behörden zum Trotz an unsichtbarer Stelle oder auf dem Kopfe stehend. Oder sie
kalkten sofort ihr Haus und überstrichen dabei, wie zufällig, auch die
Hausnummer.
Da sie sahen, daß der Widerstand
tief und aufrichtig, wenn auch versteckt war, schauten die Behörden durch die
Finger und vermieden eine strenge Anwendung der Gesetze mit allen Folgen und
Zusammenstößen, die sich daraus unweigerlich ergeben hätten.
Seit dieser Zeit waren zwei Jahre
vergangen. Jene Unruhe um die Volkszählung war schon vergessen, als man
wirklich mit der Aushebung der jungen Männer ohne Unterschied des Glaubens und
des Standes begann. In der östlichen Herzegowina kam es jetzt zum offenen
Aufstand, an dem sich dieses Mal neben den Mohammedanern zum Teil auch die
Christen beteiligten. Die Führer des aufständischen Volkes suchten Verbindung
mit dem Ausland, besonders mit der Türkei, denn sie behaupteten, die
Besatzungsmacht habe die Ermächtigungen überschritten, die man ihr auf dem
Berliner Kongreß gegeben, und sie habe nicht das Recht, in den besetzten
Gebieten, die noch immer unter türkischer Oberhoheit stünden, Rekruten
auszuheben. In Bosnien gab es keinen organisierten Widerstand, aber über
Fotscha und Goraschde drang der Aufstand bis in die Nähe des Wischegrader
Bezirks. Einzelne Aufständische oder kleinere Überreste der zerschlagenen
Gruppen versuchten, in den Sandschak oder nach Serbien zu flüchten, wobei sie
über die Wischegrader Brücke gingen. Wie immer unter solchen Verhältnissen,
begann neben dem Aufstand auch das Hajdukentum sich auszubreiten.
Damals wurde, nach so vielen Jahren,
wieder eine Wache auf der Kapija aufgestellt. Obgleich es Winter und tiefer
Schnee gefallen war, standen Tag und Nacht auf der Kapija zwei Gendarmen auf
Posten. Sie hielten unbekannte und verdächtige Vorüberkommende an, befragten
sie und durchsuchten ihre Sachen.
Schon nach zwei Wochen traf in der
Stadt eine Streifkorpsabteilung ein und löste die Gendarmen auf der Kapija ab.
Das »Streifkorps« wurde aufgestellt, sobald der Aufstand in der Herzegowina
ernsteres Ausmaß anzunehmen begann. Es waren bewegliche Kampfeinheiten,
ausgewählt und ausgerüstet für den Einsatz in schwierigem Gelände,
zusammengestellt aus gut bezahlten Freiwilligen. Unter ihnen waren Leute, die
als Soldaten ersten Aufgebotes mit den Besatzungstruppen gekommen waren und
nicht zurückgehen wollten, sondern blieben, um im Streifkorps zu dienen. Es gab
auch solche, die aus der Gendarmerie in diese neue bewegliche Abteilung
abkommandiert wurden. Und schließlich gab es auch eine gewisse Anzahl Einheimischer,
die als Vertrauensleute und Wegekundige dienten.
Den ganzen Winter über, der weder
leicht noch kurz war, stand eine Wache von zwei Streifkorpsmännern auf der
Kapija. Gewöhnlich war es ein Fremder und ein Einheimischer. Sie bauten kein
Blockhaus wie damals die Türken zur Zeit des Karageorge-Aufstandes in Serbien.
Es gab auch keine Hinrichtungen und abgeschlagenen Köpfe. Dennoch gab es auch
dieses Mal, wie immer, wenn die Kapija gesperrt wurde, ungewöhnliche Ereignisse,
die ihre Spuren in der Stadt hinterließen. Denn schwere Zeiten können nicht
ohne irgend jemandes Unglück abgehen.
Unter den Streifkorpsmännern, die
sich auf der Kapija ablösten, war auch ein junger Mensch, ein Kleinrusse aus
Ostgalizien, namens Gregor Fedun. Dieser junge, dreiundzwanzigjährige Bursche
war von riesenhaftem Wuchs, aber kindlichem Verstand, stark wie ein Bär,
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