Ivo Andric
wieder im Lande, unerwartet
traf neues Militär in der Stadt ein, und wieder stand eine Wache auf der
Brücke. Dazu aber war es so gekommen:
Die neue Obrigkeit hatte in diesem
Jahre begonnen, in Bosnien und der Herzegowina Rekruten auszuheben. Dies hatte
im Volke, besonders unter den Mohammedanern, lebhafte Aufregung hervorgerufen.
Sie hatten sich vor fünfzig Jahren erhoben, als der Sultan den ersten Nisam, ein stehendes Heer, nach europäischer Art gekleidet, ausgebildet und
ausgerüstet, einführte, denn sie wollten kein Giaurenkleid anziehen und keine
Riemen anlegen, die sich auf der Brust kreuzten und so das verhaßte Symbol des
Kreuzes bildeten. Und jetzt sollten sie dieses gleiche, verhaßte »enge Gewand«
anziehen, und noch dazu im Dienste eines fremden, andersgläubigen Kaisers.
Schon im ersten Jahre der Besetzung,
als die Obrigkeit die Numerierung der Häuser und die Zählung der
Einwohnerschaft begann, hatten diese Maßnahmen bei den Türken Mißtrauen
hervorgerufen und unbestimmte, aber tiefe Befürchtungen erweckt.
Wie immer unter solchen
Verhältnissen, setzten sich die Angesehensten und Gebildetsten unter den
Türken der Stadt unauffällig zusammen, um sich über den Sinn dieser Maßnahmen
und die Haltung zu besprechen, die man dazu einnehmen sollte.
An einem Maitage fanden sich diese
»angesehensten Männer« wie zufällig auf der Kapija zusammen und besetzten alle
Plätze auf dem Sofa. Ruhig ihren Kaffee trinkend und vor sich hin blickend,
sprachen sie flüsternd über die neuen, verdächtigen Maßnahmen der Obrigkeit.
Alle waren sie unzufrieden mit diesen neuen Bestimmungen. Diese widersprachen
ihrer ganzen Art nach all ihren Auffassungen und Gewohnheiten, denn jeder von
ihnen empfand eine solche Einmischung der Obrigkeit in die persönlichen Dinge
und das Familienleben als eine überflüssige und unverständliche Erniedrigung.
Niemand aber wußte den wahren Sinn dieser Vorschrift zu deuten, noch zu sagen,
wie man sich ihr widersetzen solle. Unter ihnen saß auch Alihodscha, der sonst
selten auf die Kapija kam, denn ihn juckte noch immer schmerzhaft das rechte
Ohr, wenn er nur jene steinernen Stufen ansah, die auf das Sofa führten.
Der Wischegrader Muderis, Huseinaga,
ein belesener und beredter Mann, als der Berufenste, erläuterte, was diese
Kennzeichnung der Häuser durch Nummern und die Zählung der Kinder und
Erwachsenen bedeuten könne.
»Das ist, so dünkt es mich, schon seit
jeher eine Gewohnheit der Ungläubigen. Es mag einige dreißig Jahre her sein,
wenn nicht mehr, da war in Trawnik der Wesir Tahirpascha aus Stambul. Das war
ein Neutürke, aber unaufrichtig und ein Heuchler, in seiner Seele war er
Ungläubiger geblieben, wie er es vorher gewesen. Die Leute erzählten, er habe
neben sich eine Glocke stehen, und wenn er einen aus der Dienerschaft rufe,
dann klingle er mit dieser Glocke wie ein Pope in der Kirche, bis der Diener
kommt. Also, dieser Tahirpascha begann als erster, die Häuser in Trawnik zu
zählen und an jedem eine Tafel mit einer Nummer anzubringen. (Daher nannten sie
ihn auch Tachtar, den »Täfler«.) Aber das Volk erhob sich, sammelte alle diese
Tafeln von den Häusern ein, trug sie auf einen Platz und verbrannte sie.
Beinahe hätte es darum sogar Blutvergießen gegeben. Aber zum Glück hörte man
in Stambul davon und berief ihn aus Bosnien ab. Möge sich seine Spur
verwischen! Also, hier handelt es sich um etwas Ähnliches. Der Schwabe will
Rechnung und Verzeichnis über alles haben, also auch über unsere Köpfe.«
Alle blickten vor sich hin und
hörten dem Muderis zu, der bekannt dafür war, daß er lieber langatmig fremde
Meinungen erzählte, als klar und eindeutig seine Ansicht zu dem zu sagen, was
heute vorging.
Wie immer verlor Alihodscha als
erster die Geduld.
»Dies tut der Schwabe nicht aus
Gründen des Glaubens, Muderis Effendi, sondern aus Berechnung. Er kennt weder
Spaß noch Müßiggang, nicht einmal, wenn er schläft, sondern kümmert sich um
sein Geschäft. Jetzt erkennt man das noch nicht, aber in ein paar Monaten oder
in einem Jahre wird man das erkennen. Denn der verstorbene Schemsibeg
Brankowitsch hat sehr wahr gesprochen, als er sagte: < Die schwäbischen Minen
haben eine lange Zündschnur! > Diese Zählung der Häuser und Menschen, so
meine ich, braucht er entweder für irgendeine neue Abgabe, oder er will die
Leute zur Zwangsarbeit oder zum Militär ausheben. Es kann aber auch für das
eine und für das andere sein. Wenn ihr mich aber
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