Ivy - Steinerne Wächter (German Edition)
dir nicht zu helfen. Wegbeschreibungen für den Campus sind zwar nicht als geheim eingestuft … Trotzdem. Ich denke, ich darf dir überhaupt keine Informationen geben.« So eierte er auf bezaubernde Weise noch eine Weile herum. Schließlich ließ sie ihn vom Haken, indem sie einem Ehemaligen auf die Schulter tippte, der gerade vorüberging.
»Entschuldigen Sie, könnten Sie mir bitte sagen, wie ich zum Dillon Gym komme?«
»Zur Sporthalle?« Der ganz in Orange gekleidete ältere Herr deutete auf das Eingangstor zum Festgelände. »Dort hinaus, auf die Campusstraße, und dann bergab.« Lily bemerkte, dass an seinem Hut zu beiden Seiten Bierdosen hingen, von denen Trinkhalme direkt zu seinem Mund führten.
Sie bedankte sich und wandte sich wieder Jake zu. »Schätze, das hätte ich dir auch sagen können«, meinte er und wurde rot bis zu den Ohrenspitzen. »Das hier ist mein erster Auftrag als Leibwächter. Ich will keinen Fehler machen.«
Lily konnte es ihm nicht vorwerfen. Sie fühlte sich bei fast allem, was sie tat, genauso. Jake trottete neben ihr her in die angegebene Richtung. »Bist du Mitglied in Vineyard Club?«, fragte sie und fügte dann hastig hinzu: »Du musst nicht antworten, wenn du nicht möchtest.«
»Na ja, ich bin eher so etwas wie ein Anwärter«, erwiderte er. »Noch in der Ausbildung. In der Regel tritt man am Ende des zweiten Studienjahres in einen Eating Club ein. Ich habe gerade mein erstes abgeschlossen.« Er plusterte sich auf wie ein Gockel, so stolz war er auf seinen Bald-bin-ich-Mitglied-Status. Lily lächelte steif.
»Ist Tye in Vineyard Club?«, fragte sie weiter, während sie vorsichtig efeubewachsene Stellen umging und sich auf der anderen Seite des Gehwegs hielt. Die Pflanzen lagen still und unbeweglich da.
Jake schniefte. »Definitiv nicht.«
»Aber du kennst ihn.«
»Ich weiß von ihm«, korrigierte Jake. »Wir haben uns noch nie getroffen.«
»Wer ist er?«, bohrte Lily weiter. »Warum hat er gesagt, er wäre mein Beschützer? Was wollte er von mir?«
»Ich … ähm … ääh … « Er wurde rot. Ach ja, fiel Lily wieder ein, er darf mir ja keinerlei Informationen geben. Sie machte den Mund auf, um sich zu entschuldigen, aber dazu kam sie nicht mehr, denn Jake deutete geradeaus und sagte: »Das ist Dillon Gym.«
Ihr Blick folgte seinem ausgestreckten Arm und erblickte ein Gebäude, das wie eine mittelalterliche Festung aussah. Hätte nicht zufällig ein Schild mit der Aufschrift Dillon Gymnasium an der Straße gestanden (was zugegebenermaßen ein Wink mit dem Zaunpfahl war), wäre sie nicht mal im Traum darauf gekommen, dass es sich um eine Sporthalle handeln könnte. »Keine Angst«, sagte sie. »Ich werde niemandem verraten, dass du es mir gesagt hast.«
»Ich denke, das geht schon in Ordnung, aber trotzdem danke«, erwiderte er erleichtert.
»Du nimmst das alles wirklich sehr ernst, stimmt’s?«
»Nicht mehr und nicht weniger als du.«
Darauf hatte sie keine Antwort. Sie fragte sich, was er wohl sagen würde, wenn er wüsste, dass die geistige Gesundheit ihrer Mom von Lilys Zulassung zu dieser Universität abhing.
Sie betrachtete Dillon Gym näher. Über den Eingängen ragten vier Gargoyles aus der Wand: ein Football-Spieler, ein mürrisch dreinblickender Mann in mittelalterlichen Gewändern, ein Tiger mit einem Wappenschild und ein Affe in Professorenrobe, der eine Brille trug. Wie die Blinde Leserin hielt auch er ein aufgeklapptes Buch in den Händen.
Lily blieb unter dem Gargoyle stehen, heftete ihren Blick auf sein steinernes Kinn und wartete darauf, dass er es der Blinden Leserin gleich tun und ihr irgendeinen Hinweis geben würde.
Doch der Affe blieb so reglos wie … na ja, wie ein Stein eben.
Lily blinzelte zu ihm hinauf. Sonnenlicht umfloss seinen Kopf wie ein Heiligenschein. Ob der Hinweis vielleicht in dem Buch versteckt war, das er hielt? Schließlich war sie auch in die Bibliothek geschickt worden, um ein Buch zu suchen – vielleicht war dieses hier ja jenes, das sie finden sollte. Wenn ja, dann würde sie die Fassade hinaufklettern müssen, um es sich genauer anzusehen. Fast hätte sie laut gelacht bei diesem Gedanken. Null Chance. Sie war nicht koordiniert genug, um da hinaufzukommen. Sie verfügte weder über die nötige Koordination noch Kondition. Und sie war auch kein Eichhörnchen. Es würde damit enden, dass sie hilflos irgendwo in der Wand hing, während sich Jake auf dem Gehweg totlachte.
Das ist doch wirklich albern, dachte sie.
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