Ivy - Steinerne Wächter (German Edition)
roter und gelber Tulpen gegangen sind, mit einem Springbrunnen in der Mitte.« Sie nahm einen anderen Stift und zeichnete ineinander verschränkte Ovale um den Hals des Tieres – eine Kette, die es in einer seiner Klauen hielt. »Und ich erinnere mich, wie ich mich bei ihm gefühlt habe. Sicher. Als wäre er mein edler Ritter in schimmernder Rüstung. Als würde er für mich sogar gegen Drachen kämpfen.«
Rose vollendete das letzte Glied der Kette. Dann sank sie auf dem Fußboden in sich zusammen und umfasste ihre Knie. Lily hockte sich neben sie, schlang ihre Arme ganz fest um ihre Mutter und blickte unverwandt auf das Bild. Es war die Steinfigur, die sie am Eingangsportal der Kirche gesehen hatte – der Angekettete Drache.
»Wow«, keuchte sie.
Eine ganze Weile saßen die beiden einfach nur schweigend miteinander auf dem Fußboden und blickten, jede für sich, wie gebannt auf den Drachen. In Lilys Kopf wirbelten tausend Fragen durcheinander, aber sie traute sich nicht, auch nur eine davon zu stellen.
Schließlich entfuhr ihrer Mutter ein seltsamer Laut, halb Lachen, halb Zwitschern. »Es ist sehr … « Sie wedelte mit einer Hand, als ob diese Geste den Satz beenden könnte. Lily sah, wie ihre Mutter ein Lächeln versuchte, doch es war unecht und verschwand schon nach wenigen Sekunden wieder. »Oh, Lily, manchmal denke ich, der einzige Grund, warum ich überhaupt noch durchhalte, bist du, ist deine Zukunft. Du wirst diesen Test bestehen. Ich weiß es. Und dann wirst du alles haben, was ich dir nicht geben kann.« Rose wandte sich ihrer Tochter zu und ergriff ihre Handgelenke. »Du kannst nicht wissen, wie viel mir das bedeutet. Ich muss nach vorne blicken. Es gibt kein Zurück.« Sie weinte stumme Tränen. »Es wird schlimmer mit mir, Lily. Ich kann es fühlen. Jeden Tag rutsche ich ein Stückchen weiter weg. Aber wenn ich an dich denke, an deine Zukunft … «
»Ich bestehe den Test. Versprochen!« Lily umarmte sie. »Ich habe sogar schon den nächsten Hinweis: der Gebildete Affe. Ich kann gewinnen. Es ist bloß eine etwas unheimliche Schnitzeljagd. Ein Kinderspiel.« Der Feeder hatte sie nicht ernsthaft verletzt, und die Bücherregale hatten ihr lediglich einen Heidenschreck eingejagt, nichts weiter. Sie konnte das schaffen. »Bitte, wein doch nicht!«
Mom drehte den Kopf zur Seite, als hoffte sie, die Tränen würden nicht als Weinen zählen, wenn Lily sie nicht sah. Lily strich ihr sanft über das blattgrüne Haar, während sie hinauf zu dem Bild vom Angeketteten Drachen blickte und sich fragte, was die Old Boys wohl als Nächstes für sie in petto hatten.
Lily schloss die Tür hinter sich und lehnte sich dagegen. Am liebsten hätte sie ihren Kopf wieder und wieder gegen das Holz geschlagen, aber das würde mit Sicherheit Jake alarmieren. Sie lächelte matt in seine Richtung und versicherte: »Kein Grund zur Sorge.« Mom hatte ihr Stein und Bein geschworen, dass Grandpa bald nach ihr sehen würde.
»Natürlich«, erwiderte Jake. Als ihre Mutter wieder zu singen begann, sah Lily das Mitleid in seinen unglaublich blauen Augen. Plötzlich hatte sie das Gefühl, er hätte einen Blick in die Schublade geworfen, wo sie ihre Unterwäsche aufbewahrte, und zwar einschließlich der Notfall-Reserve (das hieß, alle anderen Höschen waren in der Wäsche). Vermutlich stammte er selbst aus einer dieser ach so perfekten Familien, in denen es nicht auch nur die kleinsten Anzeichen gab für … in denen es niemanden gab wie Mom.
»Ich muss den Gebildeten Affen finden«, erklärte sie. Und außerdem die letzten Reste meiner Würde und meiner Selbstachtung, ergänzte sie still für sich. Wenigstens hatte sie ihm gegenüber nicht erwähnt, dass ihr durch den Kopf gegangen war, den Test abzubrechen. Sie konnte seinem Blick nicht länger standhalten. Ihr Gesicht fühlte sich heiß an. Eilig lief sie an ihm vorbei die Treppe hinunter. Jake folgte ihr auf dem Fuß. Sie konnte förmlich spüren, wie sich sein mitfühlender Blick in ihren Rücken bohrte und ihr das Etikett »bedauernswert« verpasste. Ohne sich nach ihm umzudrehen, stieß sie die Eingangstür des Wohnheims auf und trat hinaus ins Sonnenlicht.
Draußen reckte sie ihr Kinn dem Himmel entgegen, um ihr Gesicht in der Wärme zu baden. Wie immer übten die Sonnenstrahlen eine beruhigende Wirkung auf sie aus. Das gab ihr wieder neuen Mut. Sie wandte sich um. »Wie komme ich zum Dillon Gym?«
Jake zögerte. »Mein Großvater hat mir die klare Anweisung gegeben,
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