Ivy - Steinerne Wächter (German Edition)
Die Fähigkeit, sich in Spider-Man zu verwandeln, hatte rein gar nichts mit der Eignung fürs College zu tun. »Kannst du mich hochheben?«, fragte sie Jake.
»Ich darf dir nicht … «
»… helfen«, beendete sie seinen Satz. »Tut mir leid. Ich werde dich schon nicht in Schwierigkeiten bringen, versprochen.« Sie reckte ihren Hals und suchte die Fenster über den Gewölbebögen ab. Wenn sie schon nicht imstande war, zum Gebildeten Affen hinaufzuklettern, konnte sie sich ja vielleicht zu ihm hinunter lassen.
Jake im Schlepptau, betrat Lily die Sporthalle, ließ dem Einlassdienst gegenüber die Worte »zukünftige Studentin« fallen und wurde durchgewinkt. Drinnen sah Dillon Gym genauso aus und klang auch genauso wie jede andere Sporthalle der Welt. Studentinnen und Studenten rannten auf Basketballfeldern hin und her. Turnschuhe quietschten. Spieler schimpften und keuchten. Lily entdeckte eine Treppe und machte sich auf den Weg in den zweiten Stock. Jake trottete hinter ihr her. Einige der Mädchen beäugten ihn neugierig, als sie an ihnen vorbeiliefen. Jake schien es nicht zu bemerken. Das gefiel ihr.
Oben befand sich ein Gymnastikraum. Lily steckte den Kopf durch die Tür. Er war leer. Sie überquerte einige Matten und schob sich an einem Schwebebalken vorbei zu den Fenstern. In dem Spiegel, der sich über eine ganze Wand erstreckte, konnte sie sehen, dass Jake ihr immer noch folgte. Er sah ziemlich verwirrt aus.
»Was hast du vor?«, fragte er, als sie eins der Fenster öffnete.
»Ich will mir diesen Affen mal aus der Nähe betrachten.«
»Man wird dich sehen«, erhob er Einspruch. »Und außerdem könntest du runterfallen.« Er klang ehrlich besorgt. Lily hätte ihm am liebsten beruhigend die Hand getätschelt.
»Ist doch nur der zweite Stock«, sagte sie. »Kein Problem. Aber danke.« Zu Hause war sie schon oft hinaus aufs Dach geklettert, und das war der dritte Stock. Manchmal kam Mom sogar mit. Sie mochten es, Seite an Seite auf dem Dach zu liegen, die Sterne über ihren Köpfen zu betrachten und ihre eigenen Sternbilder zu erfinden.
Jake sah immer noch besorgt aus.
»Du könntest unten warten und mich auffangen, falls ich einen Abgang mache und mein Blut auf den Gehweg spritzt«, schlug sie vor. »Das wäre doch genau die richtige Aufgabe für einen Beschützer, Spritzschutz.«
Ein Lächeln erhellte sein Gesicht, so warm, dass es vermutlich ganze Polkappen zum Schmelzen bringen konnte. »Ich verfüge über keinerlei Ausbildung als Spritzschützer. Du müsstest dein Leben also blind in meine Hände legen.«
Er hatte wirklich schöne Hände. Die Vorstellung, wie er sie damit auffing, lenkte Lily ab, und es fiel ihr keine witzige Entgegnung ein. »Okay«, sagte sie daher einfach.
»Okay«, erwiderte er und wurde rot.
»Hast du einen Fotoapparat?«, fragte Lily.
»Was?«, fragte er zurück, immer noch verlegen.
»Falls jemand neugierig werden sollte, könntest du sagen, dass ich für ein Foto posiere«, erläuterte sie.
»Mein Handy hat eins.«
»Super.«
Einen Moment lang blickten sie sich stumm an. Irgendwann räusperte sich Jake. »Dann werd ich also mal … nach unten gehen.«
Lily sah ihm nach, als er den Raum verließ. Sie konnte es immer noch nicht glauben: Dieser griechische Gott von einem Jungen redete mit ihr. Mehr noch – er wurde sogar rot, wenn er mit ihr sprach. Deute da bloß nichts rein, befahl sie sich. Er ist eben von Natur aus ein Süßer. Jetzt kam er unten aus dem Gebäude und winkte zu ihr hoch. Sie lächelte und winkte zurück.
Dann kletterte sie aus dem Fenster über dem Gebildeten Affen. Sie ließ ihre Beine baumeln, streckte die Füße aus, bis ihre Zehen Stein berührten, verlagerte ihr Gewicht nach unten, fand Halt und kniete sich auf den Rücken des Gargoyle. Als sie schließlich bäuchlings auf ihm lag, lugte sie über seine Schulter hinweg in das aufgeschlagene Buch.
Die steinernen Seiten waren leer.
Ihr Mut sank. Sie war so sicher gewesen, dort die Antwort zu finden!
Unten auf dem Gehweg stand Jake und schoss Bilder mit seinem Mobiltelefon. Wahrscheinlich hielt er sie für plemplem, weil sie hier heraufgeklettert war, noch dazu, weil in dem Buch gar nichts stand. Normalerweise tat sie immer alles, um zu vermeiden, dass die Leute sie für verrückt hielten. Keine von Moms Hippie-Klamotten anziehen. Nur Jeans, normale T-Shirts, unauffällige Ohrringe und ein bisschen Lipgloss. Keine von Moms exzentrischen Angewohnheiten. Kein Klopfen an Holz oder Klettern
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