Ivy - Steinerne Wächter (German Edition)
sie Autogeräusche. Die Luft schmeckte dünner hier, als ob sie von einer Sekunde zur anderen in eine größere Höhe versetzt worden wäre. Doch unter ihrer Haut spürte sie immer noch das Vibrieren der Magie.
Jemand rief ihren Namen. »Lily!«
Grandpa kam quer über den Hof auf sie zugelaufen, im Schlepptau ein halbes Dutzend Männer und Frauen. »Du wusstest Bescheid!«, schrie sie ihm entgegen. »Du wusstest von« – Sie wedelte mit einer Hand Richtung Tor – »all dem hier!« Nie zuvor war ihr in den Sinn gekommen, dass er irgendein Geheimnis vor ihr haben könnte, und schon gar nicht ein derart großes und wichtiges.
Grandpa strahlte vor Freude übers ganze Gesicht, hob Lily hoch und wirbelte sie im Kreis. »Du hast es geschafft!« Er setzte sie wieder ab.
»Grandpa … «, begann Lily.
»Pass auf, was du hier sagst; wir sind nicht unter uns.« Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Oh, meine Tigerlily, ich bin ja so stolz auf dich!« Grandpa war ganz aus dem Häuschen vor Freude. Niemals zuvor hatte sie ihn derart fröhlich erlebt. Es traf sie genauso unerwartet wie die sprechenden Gargoyles.
Im Nu waren sie von einem ganzen Haufen Ehemaliger umringt, die lauthals durcheinanderschwatzten über alles, was mit ihrem Treffen zusammenhing: die Jacken der jüngsten Alumni, wie viele Mitglieder der Old Guard (das waren diejenigen, die bereits an ihrem 70. Absolvententreffen teilnahmen und ältere) noch gekommen waren, das für den Samstag nach der Parade geplante große Feuerwerk. Inmitten der wild durcheinanderschnatternden Menge wurden Lily und ihr Großvater über den Campus gespült. Es war, als würden sie mit ihren Körpern und Stimmen eine Hülle bilden, die sie schützte – oder verbarg.
»Warum hast du mir nichts davon gesagt?«, fragte sie Grandpa im Schutz des lauten Geplappers.
Sein Lächeln verblasste. »Du musstest die Wahrheit selbst herausfinden. Genau darum geht es bei dem Legacy Test: festzustellen, ob der Kandidat in der Lage ist, mit der Wahrheit umzugehen, indem man ihm die Möglichkeit gibt, sie zu entdecken. Es ist eine altbewährte Methode.«
»Ich find sie scheiße«, maulte Lily.
Er schnalzte mit der Zunge. »Na, na, na.«
»Der Test ist grausam und manipulativ, und du hast mich angelogen «, beharrte sie. »Was bin ich? Was war Dad?«
»Ein liebender Vater«, sagte Grandpa. »Und das ist das Wichtigste.« Er legte ihr einen Arm um die Schultern und drückte sie an sich. »Lily, du musst mir vertrauen. Die Geheimniskrämerei war notwendig. Die ganze Sache ist größer als du oder ich.«
»Weiß Mom von ›der ganzen Sache‹?«
Grandpa seufzte. »Ja, zumindest früher. Sie hat so vieles vergessen.«
Ganz leise fragte Lily: »Es wird schlimmer mit ihr, stimmt’s?«
»Es gibt Hoffnung, Lily«, erwiderte er. »Ich werde euch beiden alles erklären, schon bald. Aber jetzt müssen wir zuerst einmal feiern, was du geschafft hast! Heute Abend wird es im Vineyard Club eine Feier geben, und morgen werde ich dich und deine Mutter zu einem fürstlichen Frühstück in Pj’s Pancake House einladen. Dort wird es dir gefallen, da bin ich sicher. Man darf seinen Namen in die Tischplatte ritzen. Das ist da Tradition und gilt nicht als Vandalismus.«
»Wo ist Mom? Du hast sie doch nicht etwa wieder alleine gelassen?« Abgesehen von der Tatsache, dass der Campus von blutsaugenden Monstern nur so wimmelte, könnte Mom auch eine von ihren »Ideen« haben. Vielleicht beschloss sie, Eichhörnchen zu zähmen, oder sie kletterte an den Efeuranken empor auf eines der gotischen Gebäude, um der Sonne näher zu sein und ein Schwätzchen mit ihr zu halten – dergleichen war schon vorgekommen. »Und was meinst du mit ›Es gibt Hoffnung‹?«
»Sie ist keinen Augenblick unbeobachtet«, sagte Grandpa. »Lily, bitte konzentriere dich auf dich selbst, nur dieses eine Mal. Du hast es geschafft! Du hast den Test bestanden!« Wieder strahlte er übers ganze Gesicht.
Während sie über die Straße gingen, gab Lily sich alle Mühe, ihre tausend Fragen beiseite zu schieben und den einfachen Fakt zu begreifen. Sie hatte es wirklich geschafft: automatische Zulassung für Princeton University! Was machte es da schon aus, dass ihr Traumcollege ein paar unerwartete Eigenheiten aufwies? Erstens konnte sie es vermeiden, durch das Haupttor zu gehen (was nicht schwierig werden dürfte, denn das taten ja alle Studenten aufgrund des bekannten Aberglaubens). Zweitens konnte sie direkten Kontakt mit den Gargoyles
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