Ivy - Steinerne Wächter (German Edition)
»Sie ist noch nicht ausgebildet«, sagte er. »Sie hat null Hintergrundwissen. Ihr könnt doch nicht erwarten … «
»Ausgebildet oder nicht, sie könnte uns trotzdem wertvolle Hinweise geben, falls sie das will und falls sie sich nicht schon für die Gegenseite entschieden hat.« Zur Bekräftigung seiner Worte hieb der Krawattenmann eine geballte Faust in die andere Hand.
Grandpas Gesicht verdüsterte sich. »Stellst du etwa die Integrität meiner Enkelin infrage?«, fragte er halblaut, aber fest und bestimmt. Lily wagte kaum zu atmen. In diesem Ton hatte sie ihren Großvater nur äußerst selten sprechen hören. Das letzte Mal zu einem Mann, der versucht hatte, Mom zu bedrängen, weil er ihre Flatterhaftigkeit für Flirten hielt. Sie wich zurück, wollte bloß noch weg hier. »Ich habe sie wie einen Menschen aufgezogen«, fuhr Grandpa fort. »Wenn du an ihr zweifelst, dann zweifelst du an mir.« Er tippte sich mit dem Daumen an die Brust, um seine Worte zu unterstreichen. »Zweifelst du an mir ?«
Hatte Grandpa wirklich gesagt »wie einen Menschen«? Gerne hätte sie wieder nach ihrem Vater gefragt, aber das hier war mit Sicherheit weder der richtige Ort noch die richtige Zeit dafür. Wahrscheinlich war es am besten, wenn sie einfach gar nichts sagte. Es könnte auch nicht schaden, sich in eine Maus zu verwandeln und sich heimlich davonzustehlen.
Jetzt mischte sich Mr Mayfair ein. »Meine Herren und Damen, wenn Sie gestatten. Ich muss Ihnen unseren Ehrengast für einen Moment entführen.« Der Krawattenmann blickte mürrisch drein, als wolle er widersprechen. »Unser Weinkeller hat heute einen überaus köstlichen Bordeaux zu bieten. Bitte, Herrschaften, es wäre doch eine Schande, ihn nicht zu verkosten.« Solcherart ermutigt von Mr Mayfair, begann sich der Knoten der Alumni um Lily herum langsam aufzulösen.
Ihre Knie fühlten sich wie Pudding an. Sonst war die Furcht einflößendste Person in ihrem Leben der Chemielehrer im Leistungskurs. Verhöre bei Plunderstückchen war sie nicht gewohnt. »Vielen Dank«, sagte sie zu Mr Mayfair. Er neigte höflich den Kopf.
Grandpa war immer noch aufgebracht. »Du bist nicht ausgebildet. Wie können sie nur erwarten … «
»Angst gebiert Ungeduld«, sagte Mr Mayfair. »Und sie haben Angst, seit immer wieder Berichte durchsickern, dass sich die Feeder möglicherweise zusammenschließen könnten … Aber das sollte heute kein Thema sein. Dies ist ein überaus erfreulicher Anlass!« Er zwinkerte Lily lächelnd zu, und sie fühlte sich schon wieder ein bisschen besser. Mr Mayfair strahlte Ruhe und Gelassenheit aus. Er war wie ein Baum mit einer breiten, schützenden Krone mitten in einem Gewitter. »Ihr Ansatz, die Wahrheit zu finden, war … unkonventionell, aber sie hat den Legacy Test in Rekordzeit absolviert und die nötige Flexibilität ihrer Weltsicht unter Beweis gestellt. Ich hege keinerlei Zweifel, dass sie uns in den bevorstehenden Schlachten eine wertvolle Hilfe sein wird«, fuhr Mr Mayfair fort.
»Schlachten?«, wiederholte Lily verwundert.
»Wir verteidigen die Unschuldigen gegen das Böse, von dem sie nicht einmal wissen, dass es überhaupt existiert.« Mit einer weit ausholenden Bewegung deutete Mr Mayfair auf alle Menschen im Raum. Dann breitete er gebieterisch die Arme aus. »Wir, die Ritter von Princeton, beschützen die Welt.«
Ritter von Princeton. Sie stellte sich Mr Mayfair in einer Rüstung vor. Überraschenderweise erschien ihr das Bild gar nicht so abwegig. Er würde aussehen wie König Artus.
Mr Mayfair legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Ich weiß, du hast viele, viele Fragen. Aber zuerst müssen wir dich anzapfen. Es war nachlässig von mir, mich nicht sofort darum zu kümmern. Ich bitte vielmals um Entschuldigung.«
»Mich anzapfen?«, quiekte Lily.
»Keine Angst. Es dauert nur ein paar Minuten, und dann bist du wieder du selbst«, sagte Grandpa und küsste sie auf die Stirn. »Du kannst Joseph vertrauen.«
Mr Mayfair lächelte ihr beruhigend zu. »Die Prozedur ist vollkommen sicher. Ich weiß ganz genau, wann ich aufhören muss.«
Lily hatte das Gefühl, in einer Arztpraxis zu sein, wo eine Krankenschwester eine riesengroße Spritze hochhielt und behauptete: Es tut kein bisschen weh.
»Was ist das für eine Prozedur?«, fragte sie Mr Mayfair, während er sie durch die dicht gedrängten Gäste des Empfangs hindurch manövrierte. Sie sah sich nach Grandpa um. Er folgte ihnen nicht, sondern bahnte sich stattdessen einen Weg
Weitere Kostenlose Bücher