Jack Fleming 02 - Blutjagd
einfiel.
»Darf ich fragen, warum Sie sich dafür interessieren?«
Den wahren Grund konnte ich ihm nicht sagen, also hatte ich einen falschen eingeübt und parat. »Ich arbeite an einem Handbuch über die Tatsachen, die Märchen und Volkslegenden zugrunde liegen.«
»Das ist ein sehr umfassendes Gebiet.«
»Nicht, wenn man bestimmte Bücher aufspürt.«
Er nickte mitfühlend. »Ich würde Ihnen gerne helfen, aber das geht nur mit Einschränkungen.«
Welchen Haken wollte er jetzt anbringen? Er würde rasch feststellen, dass ich nicht reich war.
»Sie müssten es hier im Laden lesen, wenn Sie das wollen. Zum Verleihen ist es mir zu kostbar.«
»Das kann ich verstehen«, sagte ich erfreut. »Sind Sie sicher, dass es Ihnen nicht zu viel Mühe macht?«
»Das bereitet keine Mühe, aber es müsste während der Öffnungszeiten geschehen.«
»Das passt mir gut, vielen Dank.«
Er hielt mir die Hand hin. »Ich bin James Braxton.«
»Jack Fleming.«
»Kommen Sie mit nach hinten, ich zeige Ihnen, wo Sie es lesen können.«
»Sie haben es hier?«
»Oh ja. Ja.« Er schlängelte sich an wandhohen Buchregalen vorbei und führte mich tief in den schmalen Laden. Er schaltete die Lampe über einem Schreibtisch mit einem Stuhl davor an und fegte ein paar Kontenbücher beiseite. Im Licht wurden Regale sichtbar, auf denen dicht an dicht eine bunte Mischung von Buchrücken jedweden Alters und jeder Farbe zu sehen war. Sie wirkte wie die Volksmärchensammlung vorne im Laden, nur dass die wie ein Abklatsch daherkam. Einige Bände waren sehr alt und hatten sonderbare Titel, andere stammten aus neuerer Zeit und von skeptischeren Verfassern. Ein Regal war ausschließlich mit Ausgaben des Occult Review gefüllt. Sein Interesse an dem Thema war mehr als nur beiläufiger Natur, und ich fragte mich, ob er ernsthaft an solche Dinge glaubte. Falls es so war, musste ich aufpassen, was ich sagte.
Er wusste genau, wo der Band stand, zog ihn heraus und legte ihn auf den Tisch. »Ich hoffe, es gefällt Ihnen«, sagte er.
»Vielen Dank, das ist wirklich sehr großzügig von Ihnen.«
»Ich bin nur dafür, den allgemeinen Wissensstand über ein vernachlässigtes Gebiet zu erweitern«, sagte er lächelnd.
»Sie haben wirklich eine schöne Sammlung.«
Die Türglocke erklang und unterbrach seine Entgegnung. Mit einem bedauernden Lächeln entschuldigte er sich und kam während der nächsten paar Stunden nicht wieder.
Das erste Kapitel hatte ich bereits in einem anderen Buch gelesen, also ließ ich es aus und überflog gleich das zweite und dritte Kapitel. Ich war ein schneller Leser, aber ich hatte nicht vor, mich für den Rest meines Lebens in die mehr als zweihundert Kapitel des Buches zu vertiefen. Ursprünglich war es kapitelweise in wöchentlichen Fortsetzungen für den Lesehunger der neuerdings lesefähigen Massen veröffentlicht worden. Ein schneller Autor konnte sich mit einer beliebten Serie jahrelang Arbeit verschaffen. Im vorigen Jahrhundert waren die p enny dreadfuls so beliebt gewesen, wie die Radioserien und Filmreihen in meiner Zeit.
Ich blätterte rasch durch die Seiten, las die kurzen Inhaltsbeschreibungen unter den Kapitelüberschriften und überflog die Dialoge, wenn sie auftauchten. Die Haupthandlung befasste sich mit den Fährnissen der Familie Bannerworth, die wacker den Angriffen Varneys des Vampirs auf ihre Tochter Flora trotzte. Eine gute Familie, aber nicht besonders schlau: Wären sie gleich zu Anfang fortgezogen, hätten sie sich eine Menge Ärger erspart, aber die Handlung stolperte ungeachtet dieser Logikdefizite voran.
Es war tatsächlich besser, als ich erwartet hatte – zumindest am Anfang, dann ließen der Schreibstil und die innere Stimmigkeit deutlich nach. Ein dramatisches offenes Kapitelende blieb unaufgelöst, und zeitweise verschwand einer der Bannerworth-Brüder ohne Erklärung spurlos aus der Geschichte. Als er wieder auftauchte, hatte der Autor seinen Namen vergessen. Ganze Abschnitte, die zu keinem anderen Zweck als dem der Zeilenschinderei geschrieben waren, strapazierten meine Geduld, und ich ließ sie aus. Ich konzentrierte mich auf die wenigen Szenen, in denen der Vampir die Bühne betrat und etwas zu sagen hatte.
Sein Hunger nach Blut trat nur gelegentlich auf, meistens nachdem er getötet worden war und man seine Leiche achtlos im Mondlicht zurückgelassen hatte, das ihn wieder zum Leben erweckte. Die Sache mit dem Mondlicht hatte der Autor von Polidori geklaut und setzte sie schamlos
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